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  • Mietenwahnsinn in Marseille

Fünf in dein Auge

Frankreichs Oberschicht hat das Marseiller Arbeiterviertel Le Panier für sich entdeckt. Anwohner stehen Verdrängung hilflos gegenüber

  • Benjamin Beutler, Marseille
  • Lesedauer: 8 Min.

Wir laufen die schmale Promenade an den Stränden der Hafenstadt Marseille entlang. Es ist Juli. Auf den Straßen herrscht viel Verkehr. Die Sonne geht gerade unter. Vor allem junge Menschen kommen vom Baden und Sonnen auf den Felsen oder Stadtstränden. Es herrscht Sommerferienstimmung. Passanten sind auf der Suche nach einer Bar mit Fernseher. Sie wollen sich ein Spiel der Fußball-Europameisterschaft ansehen, obwohl das französische Team mit seinen Stars wie Karim Benzema, Kilian Mbappé und Ousmane Dembélé längst ausgeschieden ist. Auf einer der Bogenbrücken über den Buchten der französischen Riviera, kurz vor der Corniche du Président John F. Kennedy, wechseln wir die Straßenseite, um schnell noch einen Blick in den Yachthafen von Vallon des Auffes zu werfen.

Dann spritzt ein Funkenstrahl, Stahl auf Stein, ein Angriff aus dem Nichts. Ein Motorrad schießt führerlos über den Asphalt direkt auf uns zu. Daneben schleudert der Fahrer mit Helm, Fleisch und Knochen über die Fahrbahn. Sein Schrei ist endlos. Ansonsten herrscht Stille. Die Zeit wird langsam. Ich schaue einem jungen Mann in sein dunkles Gesicht. In seinen aufgerissenen Mund. In seine panischen Augen.

Wir springen zur Seite. Zentimeter neben uns, hinter uns, spüren wir den Einschlag. Nur nicht hinschauen. Stimmen herumrennender Menschen, Autogehupe - der Film läuft wieder in Normalgeschwindigkeit. Weiter vorn, an einer Ampel, liegt eine schwerverletzte Frau. Eine Menschentraube hat sich um sie gebildet. Wir zittern. Der Mund ist staubtrocken. Der Arm brennt vom Funkenschlag. Irgendwo in der Ferne quält sich langsam ein Krankenwagen durch den Stau. Man hört die Sirene. Das Meer rauscht.

In der Stadt fließt viel Adrenalin

Ein paar Tage zuvor: Start am Berliner Hauptbahnhof, Umstieg in Frankfurt am Main, dann in den französischen Schnellzug TGV. Die Fahrzeit nach Marseille beträgt rund zwölf Stunden im Polstersessel und mit Panoramafenster. Somit liegen Frankreichs älteste Stadt und das Meer fast um die Ecke. Wir mieten uns in Le Panier ein, rufen Freunde an. Das Arbeiterviertel gleich am Hafen lässt sich mit dem Berliner Ortsteil Kreuzberg vergleichen. Einst wurde es gemieden und war berüchtigt. Heute gilt Le Panier als hip. Die Mieten sind unerschwinglich.

In der wunderschönen Stadt fließt viel Adrenalin und man sieht rüde Männlichkeit. Drei Jungs streiten sich um einen E-Roller. Zwei gegen einen. Sofort knallt ein Schlag auf die Schläfe, fliegt die Spucke ins Gesicht. Einige Meter entfernt, am Strand, ärgert sich ein alter Mann über die Lautsprecherbox eines bekifften Teenagers. Es kommt zu Gerangel und Ohrfeigen. Ein Muskelvater mit kreischendem Sohn mischt sich ein. Der Alte solle an den Privatstrand gehen. »Hier ist der Strand für die Armen«, sagt er. Der Alte stößt den jungen Störer zwischen die Felssteine.

Auf der Dachterrasse haben wir abends zu einer kleinen Willkommensparty geladen. Es ist ein seltsames Gefühl, Gastgeber zu sein in einer fremden Stadt. Nicht nur der leichte Mistral kitzelt unsere Nasen. Dazu Pernot mit Eiswürfeln und Bier. Die 0,2-Liter-Flasche kostet einen Euro am Kiosk. Beatrice war Balletttänzerin an der Pariser Oper. Heute arbeitet sie hinter der Bühne. Sie lebt mit Francesco, einem Filmenthusiasten aus dem italienischen Modena, und ihrer kleinen Tochter Djemma gleich um die Ecke. Wenn die gebürtige Pariserin aus dem Küchenfenster schaut, sieht sie die rot lackierten Fährschiffe der Corsica Linea, die sich im Tempo eines Brustschwimmers in den Hafen drücken. Die Schiffsmotoren arbeiten wie eine Armada von Presslufthämmern hinter Watte und laufen mehrmals die Woche auch nachts durch. Deswegen können die Anwohner trotz Sommerhitze mit offenem Fenster nicht schlafen. »Freunde von uns wohnen drei Kilometer weiter weg. Sie sind Amerikaner. Die wollen jetzt klagen. Wenn sie das Fenster auflassen, bildet sich ein schwarzer Ölfilm auf dem Küchentisch. Da steht wohl der Wind schlecht«, erzählt Beatrice. Auch in Djemmas Kindergarten und auf dem Spielplatz sei die Luft verdreckt. Bestimmt übertreibt sie jetzt und will ihre wunderschöne Hafen-Altbauwohnung im angesagten Panier ein wenig madig machen, denke ich mir.

Als wir die kleine Familie wenige Tage später auf einem der Plätze im Viertel wiedertreffen, fängt es schlagartig zu stinken an. Ein rauchiger Terpentingeschmack macht sich im Mund breit. Der Riesendampfer, drei Mal, vier Mal so hoch wie die Häuser vom Panier, fährt aus dem Europort Marseille auf die offene See.

Über uns leuchtet der Sternenhimmel, unter dem Tisch nerven die Mücken, vor uns ist die angestrahlte Cathédrale de la Major zu sehen. Schnell wird bei der kleinen Party-Runde über die Dauerbrennerthemen aller Großstadtbewohner gesprochen. Wie hat sich das Viertel doch verändert! Hadrien Bels, Anfang 40, mit Stoppelbart und schwarzer Nachdenkbrille, ist Schriftsteller. Gerade hat er seinen Debütroman veröffentlicht. In »Cinq dans tes yeux« beschreibt der in Marseille geborene Mann seine Kindheit, Jugend und den Überlebenskampf im Panier. Vor mehr als 30 Jahren war seine Mutter vor der islamistischen Enge in Algier zurück auf die andere Seite des Meeres gewechselt. Im Quartier betrieb sie einen Literaturclub.

Verdrängung in die Wohnsilos im Norden

Hadrien erinnert an den Besuch der öffentlichen Schule in den 90er Jahren. An Klassenfotos, auf denen der Ich-Erzähler, den alle nur »Stress« nennen, der einzige Junge mit rosa Bäckchen und Bücherregalen ist. Seine Jugendfreunde heißen Ichem, Kassim, Djamel und Ange. Ihre Eltern kommen aus den Dörfern Algeriens, dem Maghreb, von den Komoren. »Khamsa fi aïnek!«, »Fünf in dein Auge!«, fluchen die Jungs auf Arabisch auf die »Gekommenen«, die Hinzugezogenen, die sich mit Flipflops, offenen Hawaii-Hemden und dicker Hose vergebens als Kumpels anbiedern.

Der Fluch meint nicht etwa die Faust aufs Auge des Türstehers, der die Einwandererjungs nicht in die Franzosen-Discos einlässt. Die Formel ist ein magischer Abwehrspruch gegen den bösen Blick von Neidern, Missgünstigen, aber auch Bewunderern. Ein Blick, der nichts bringt als großes Unglück. Wenn man es glaubt, bietet neben Fluchen allein das Amulett der offenen Hand mit fünf Fingern Schutz, wenn es nach unten gewendet ist. Die Hand Fatimas bei den Moslems, die Hand Miriams bei den Juden.

Den Ichems und Kassims hat Fatima wenig geholfen. Wohnung um Wohnung, Straße und Straße greifen sich die Zugereisten aus Paris, aus den französischen Mittelstandsfamilien, aus Gegenden, wo die rassistische Partei von Marine Le Pen Rekordergebnisse einfährt, ihr Revier, ihre Stadt. Die Verwaltung ließ das Viertel jahrzehntelang verfallen. Als »Kulturhauptstadt Europas« hübschte sie es dann ab 2013 mit viel Farbe auf. Seitdem liegt der gierige Blick von Immobilienspekulanten und Gutbetuchten auf dem Panier.

Die alten Nachbarn von »Stress« haben längst ihre Koffer gepackt. Heute wohnen sie in den Wohnsilos im Norden von Marseille. Dort sind die Aufzüge und Hoffnungen kaputt. Die Kriminalitätsrate ist so hoch wie kaum anderswo in Europa. Die Kindheitsfreunde sind längst nicht mehr seine Freunde. Sie sind Busfahrer, Sicherheitsleute oder Dealer. Mancher Kumpel wird erinnert, als einer der unbekannten Soldaten der Bandenkriege, durchsiebt von der Salve eines Maschinengewehrs, mit zerschnittener Kehle in der Leichenhalle, für einen Tag berühmt und in den Lokalnachrichten zu sehen.

Ohnmacht vor der Realität

Der Schriftsteller von Le Panier steht auf einer Airbnb-Party im ausverkauften Viertel seiner Jugend. »Marseille ist wie eine wunderschöne Frau, der ich gerne sagen will: Ich liebe dich! Aber die mit einem anderen geht.« Heute macht der Familienvater zur Entspannung Yoga: »Ich wusste, dass es vor allem die Neu-Marseiller sein werden, die das Buch lesen. Und ich damit das Image der Stadt als Sehnsuchtsort, als ursprünglich, als wild weiter aufpoliere.« Hadrien trifft einen wunden Punkt. Ob Berlin oder Marseille - wir arbeiten uns an der widersprüchlichen Gegenwart des real existierenden Kapitalismus ab, weil wir unsere Stadt und ihre Menschen lieben. Wir schimpfen, weil wir hilflos sind, unerwünschte Veränderungen abzuwehren. Wir beschweren uns, weil wir das Gefühl nicht loswerden, dass wir unfähig sind, die Ungerechtigkeit vor unseren Augen zu verhindern.

Wir ätzen über steigende Mieten und darüber, wie die Eigentumswohnungen der Bessergestellten das Leben für die Habenichtse immer schwerer machen. Darüber, wie die »Angekommenen« breit über unsere Straßen laufen, als seien es immer schon ihre gewesen. Über die Politik, die dem Treiben kein Ende macht. Dabei kriegen wir unseren Hintern selbst nicht hoch.

Wir verzweifeln über die Kunstszene, die wie wir über alles Bescheid weiß und Kapitalismus, Ausbeutung, Gentrifizierung kritisiert. Mit Performances und Ausstellungen dreht sie das Verwertungskarussell aber weiter. Die Stadtteile der Armen werden aufgewertet und erscheinen später mit schicken Fotos im Immobilienkatalog. Wir meckern in Südfrankreich auf der Dachterrasse mit Meerblick und Merlot, ahnend, dass wir nicht diejenigen sind, die zu den Verlierern in der Neubauplatte gehören, sondern in den einstigen, ach so authentischen Wohnungen der Djamels und Anjous Urlaub machen. Wir wissen aber auch, dass wir als nächstes an der Reihe sind und zwangsgeräumt werden, wenn die Zahnarztfamilie aus München Eigenbedarf anmeldet oder der Job ohne Festvertrag weg ist, aber die Miete weiter steigt. Am nächsten Tag schicken unserer Vermieter eine SMS. Die Nachbarn haben sich über den Lärm bis früh am Morgen beschwert.

Bei einem Spaziergang über den Vieux-Port und die sanften Hügel rund um die Basilika Notre-Dame-de-la-Garde schauen wir am Unfallort des Vortags vorbei. An einem hüfthohen Schutzgitter, wie sie überall in der Stadt herumstehen, um die engen Fußgängerwege von der tobenden Straße zu trennen, baumelt ein Flatterband. Die Verankerung ist aus dem Boden gerissen. Steine und Asphalt liegen herum. Das Gusseisen hängt durch wie eine geschmolzene Lakritzstange. Das Blut auf der Straße ist dunkelbraun. Wir kommen wieder.

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