- Berlin
- Sozial-ökologische Wende
Verkehrswendebremse in Grün
Bezirksserie zur Berliner Wahl Teil 7: Charlottenburg-Wilmersdorf tut sich schwer mit ökologisch-sozialen Veränderungen
Sascha Broy ist wütend. »Jahrzehntelang haben wir hingenommen, dass nichts passiert, weil die Senatsverkehrsverwaltung für Verkehr von der SPD besetzt wurde und es mit den Bezirken mit Verkehrsstadträten von CDU oder SPD keine einheitlichen Linien gab«, sagt er zu »nd«. Seit Ende 2016 sind aber sowohl die Verkehrsverwaltung mit Senatorin Regine Günther als auch der Bezirksstadtratsposten in Charlottenburg-Wilmersdorf mit Oliver Schruoffeneger in Grünen- Hand. »Dass der Wille nicht da ist, um das Hin- und Hergeschiebe der Zuständigkeiten in den Griff zu kriegen, ist absolut enttäuschend«, erklärt Broy, der sich im Netzwerk fahrradfreundliches Charlottenburg-Wilmersdorf engagiert.
Es geht um Pop-up-Fahrradwege, also jene relativ zu Beginn der Corona-Pandemie im vergangenen Jahr in Berlin auftauchenden provisorisch abmarkierten Radspuren zulasten des Autoverkehrs. Immerhin hat der Bezirk mit der über drei Kilometer langen Spur entlang von Kantstraße und Neuer Kantstraße die längste in der Stadt bekommen. Die Planung wurde ausnahmsweise von der Senatsverwaltung erledigt, weil man dort unbedingt die Situation für Fahrradfahrende verbessern wollte. Doch die Ausführung von Markierung und Beschilderung in der Hand des Bezirks war ein Desaster, was für reichlich Häme sorgte.
- Bei der Bundestagswahl 2017 gewann Klaus-Dieter Gröhler (CDU) mit 30,2 Prozent den Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf. Friederike Benda holte für Die Linke 9,4 Prozent.
- Für die Bundestagswahl 2021 nominierte die CDU wieder Gröhler; die SPD schickt den noch Regierenden Bürgermeister Michael Müller ins Rennen. Für die Grünen tritt erneut Lisa Paus an.
- Bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl 2016 siegte bei den Zweitstimmen die SPD mit 22,8 Prozent (CDU 20,3; Grüne 18,5; FDP 12,3; AfD 10,3; Linke 9,3).
- In der BVV wurde die SPD mit 25,1 Prozent stärkste Kraft (CDU 21,6; Grüne 19,8; FDP 10,3; AfD 9,7; Linke 7,9). nic
Überforderte Firmen, unwilliger Stadtrat
»Die Firmen, die auf der Kantstraße den Radstreifen markiert hatten, waren komplett überfordert. Sie waren es zuvor gewohnt, mal 20 Meter wegen einer Baustelle zu markieren - nun ging es um drei Kilometer«, sagt Broy. Dann war zwar die Markierung da, aber es fehlte die Beschilderung an manchen Stellen, oder beides zusammen war widersprüchlich. Und lange gehalten haben die gelben Streifen auch nicht. »Zwischenzeitlich ist die Markierung erneuert worden, allerdings auf kuriose Weise. Der Radweg macht einen Bogen um Baustellen, die bei der Erneuerung teilweise schon ein halbes Jahr nicht mehr vorhanden waren«, berichtet der Fahrradaktivist.
Nach den Erfahrungen war beim Verkehrsstadtrat Schruoffeneger keine Rede mehr davon, dass er acht weitere Pop-up-Radwege an Ausfallstraßen des Bezirks anlegen lassen möchte, wie er vor Markierung der Kantstraße in der »Berliner Morgenpost« verkündet hatte. Man habe der Senatsverwaltung eine Reihe von Straßen vorgeschlagen, erklärt Schruoffeneger auf nd-Anfrage. »Das Problem war, dass es in Charlottenburg-Wilmersdorf keine fertigen Planungen für dauerhafte Radverkehrsanlagen gab, die man hätte beschleunigt ›aufpoppen‹ lassen können«, so der Stadtrat weiter.
Das wollten Fahrradnetzwerker im Bezirk aber nicht so hinnehmen. Ende Juli 2020 hatten sie ihm eine Kooperationsvereinbarung für einen Pop-up-Radweg auf der Kaiser-Friedrich-Straße vorgeschlagen. Dann gäbe es zur Kantstraße auch eine Nord-Süd-Magistrale mit sicherer Fahrradinfrastruktur im Bezirk. »Wir würden für die Verwaltung den Verkehrszeichenplan und die Markierung der Spuren erarbeiten«, erläutert Broy deren Inhalt. Ende Juli ist die Vereinbarung unterschrieben worden, die ausgearbeiteten Pläne gingen im Oktober 2020 an den Stadtrat. »Er hat es dann nicht mal geschafft, den eigenen Stempel draufzuhauen und die Unterlagen so an die Senatsverwaltung geschickt«, berichtet der Aktivist. Die musste das in dieser Form zurückweisen.
»Das Konzept ›Pop-up‹ funktioniert nur dann gut, wenn man absehbar eine Verstetigung gewährleisten kann und da hängt es an der Kantstraße nach wie vor. Solche Situationen kann man nicht x-mal schaffen, ohne eine klare Lösungsperspektive zu haben«, entgegnet der Stadtrat. Zumal nun eine Nord-Süd-Strecke durch die Richard-Wagner-Straße geplant sei.
»Das wahre Problem ist, dass Oliver Schruoffeneger seinen Amtsleiter nicht im Griff hat. Dabei hat es Martina Schmiedhofer, die bis 2010 für die Grünen Verkehrs-Bezirksstadträtin war, vorgemacht, wie man damit umgeht. Als sich der Amtsleiter weigerte, seine Unterschrift unter die Verfügung zu setzen, die Prinzregentenstraße zur Fahrradstraße zu machen, machte sie es kurzerhand selbst«, resümiert Broy. Stadträte haben diese Möglichkeit. »Man muss Schruoffeneger allerdings zugutehalten, dass sein Straßenverkehrsamt zum Amtsantritt überhaupt keine Mitarbeiter hatte.«
Trotz schlechter Leistung wieder vorne
Was Sascha Broy aufstößt: »Trotz der entmutigenden Leistungen als Stadtrat ist Oliver Schruoffeneger wieder auf Platz 2 der Kandidierendenliste für die Bezirksverordnetenversammlung.« Der Stadtrat verspricht: »Es wird in den Monaten und deutlich mehr sichtbare Maßnahmen geben.«
Auch Die Linke im Bezirk arbeitet sich besonders an dem Grünen-Stadtrat ab. Allein seit 2019 seien fünf Radfahrer in Charlottenburg-Wilmersdorf im Straßenverkehr getötet worden und über 1660 verletzt, sagt Johannes Kolleck zu »nd«. Und obwohl die Grünen seit 2016 zuständig seien, habe es kaum Fortschritte gegeben. Kolleck ist Direktkandidat für das Abgeordnetenhaus und lobt die »deutliche Verbesserung« durch den Pop-up-Radweg auf der Kantstraße. »Aber dabei darf es nicht bleiben«, fordert er. Überall im Bezirk müsse es möglich sein, sicher mit dem Rad oder zu Fuß unterwegs zu sein. Nur mit einer gerechten Mobilitätswende könne Klimaneutralität erreicht werden. »Einfach mal machen und Spielräume nutzen - das ist mein Ansatz. Andere Bezirke können es doch auch«, sagt er.
Es gibt auch Rote Kieze im Bezirk
Am Dienstagnachmittag kommt Niklas Schenker mit dem roten Linke-Lastenfahrrad am Stuttgarter Platz angefahren. Der Co-Fraktionschef der Linkspartei in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) hofft, über die Landesliste ins Abgeordnetenhaus einzuziehen. Angesichts der schlechten Umfragewerte ist das jedoch eine wacklige Angelegenheit. Mit Platz 2 auf der Bezirksliste ist der Einzug in die BVV jedoch ziemlich sicher.
Seit der letzten Wahl ist Die Linke erstmals in Fraktionsstärke im Bezirksparlament vertreten. »Das macht schon einen Unterschied, vor allem, weil der rot-grünen Zählgemeinschaft ein bisschen was zur Mehrheit gefehlt hat«, sagt der 28-Jährige. Die Linksfraktion hat einen Tolerierungsvertrag mit den beiden anderen Fraktionen geschlossen. »So können wir immer wieder Druck machen. Wir konnten erreichen, dass es inzwischen acht Milieuschutzgebiete im Bezirk gibt«, berichtet er.
Annetta Juckel, Spitzenkandidatin der Linken im Bezirk, nennt weitere Erfolge: »Mit der Einrichtung einer Ombudsstelle erhalten Hartz-IV-Bezieher*innen unabhängige Beratung und Unterstützung.« Ein »besonderes Herzensanliegen« sei ihr der Aufbau »eines Büros für Bürger*innenbeteiligung, damit die Stadtgesellschaft auch wirklich angehört und beteiligt wird«. Sie will noch mehr. »Ich bin mir sicher, mit einem ersten Linke-Bezirksamtsmitglied könnten wir noch mehr für die Menschen erreichen. Dafür streiten wir!«
»Die Gegend hier am Bahnhof Charlottenburg ist kein einfaches Pflaster für uns«, räumt Niklas Schenker ein. »Aber rund um den Klausenerplatz ist das ein richtig linker Kiez, da haben wir bei der Wahl 2016 zum Teil 25 Prozent eingefahren.«
Schenker und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter werden durchaus einige ihrer Werbematerialien los. Joachim Neu freut sich richtig über den Besuch von Schenker. Der pensionierte Lehrer engagiert sich unter anderem in der Bürgerinitiative Stuttgarter Platz. Hier ist er, um die Stuttibox zu bewachen, eine ehemalige Telefonzelle, in der kostenlos Bücher getauscht werden können. Händler hatten mehrfach einfach alle Regale ausgeräumt, um die Bücher zu verkaufen. »Gib mir mal ein paar Plakate von dir«, sagt Neu. Dem vielfach Engagierten gefällt es, dass Die Linke den satten, oft großbürgerlichen Bezirk ein wenig aufmischt.
Investoren finden viel Gehör
Bürgerinitiativen fehlen leider in der City West. So konnten Immobilienunternehmen mit Billigung des Baustadtrats, ebenfalls Oliver Schruoffeneger, eine »Charta City West 2040« erarbeiten, die vor allem die Interessen der Investoren im Blick hat, darunter die vom österreichischen Milliardär René Benko gegründete Signa-Gruppe. Die Investoren wollen unter anderem mehr Hochhäuser entlang von Tauentzienstraße und Kurfürstendamm - ein Vorhaben, dem die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung mit dem Masterplan City West einen Riegel vorschieben will. Die bisher weitgehend einheitliche Traufhöhe am Kurfürstendamm westlich der Joachimstaler Straße soll erhalten werden.
Schruoffeneger reagiert in der Antwort auf eine Große Anfrage der CDU-Bezirksfraktion gallig auf das Vorgehen des Senats. Die »Verlässlichkeit von politischen Absprachen« sei »unverzichtbar«, heißt es dort in Bezug auf das Karstadt-Grundstück, auf dem Signa Hochhäuser bauen will. In der Absichtserklärung mit dem Senat ist allerdings von »Hochpunkten« die Rede, was angesichts der umgebenden Bebauung auch nur 35 Meter hohe Gebäude sein können. Echte Wolkenkratzer wurden nie verbindlich zugesagt, auch wenn das Bezirksamt den Eindruck zu erwecken versucht. Gleichzeitig verweist Schruoffeneger auf die »zivilgesellschaftliche Beteiligung« an der Charta. Eine »Mogelpackung«, nannte das Verfahren sogar die Grünen-Parteifreundin Susanna Kahlefeld im vergangenen Jahr gegenüber »nd«. Sie ist Sprecherin für Partizipation und Beteiligung der Abgeordnetenhausfraktion.
»Spekulant*innen um Signa treffen auf einen befürwortenden grünen Baustadtrat«, kommentiert das Niklas Schenker. In diesem Falle sei er froh, dass die Stadtentwicklungsverwaltung das Verfahren an sich gezogen hat. Das Leitbild der Linken sei ein »Ku’damm für alle«.
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