Das Reförmchen

Rot-Rot-Grün in Berlin wollte mit einer Schulgesetzänderung noch einmal einen größeren Wurf landen

  • Rainer Rutz
  • Lesedauer: 8 Min.

Er habe schon das Gefühl, dass die Freien Schulen »immer noch zu oft als Fremdkörper im grundsätzlich staatlich gedachten Schulsystem empfunden und so auch behandelt werden«, sagt Roland Kern vom Dachverband der Berliner Kinder- und Schülerläden (DaKs). Fast 30 kleine Schulen in freier Trägerschaft - allesamt mit alternativen Lern- und Lehrkonzepten - sind in seinem Verband organisiert. Wie ausgeprägt dieses Unverständnis für die Belange der Freien Schulen in Teilen der Berliner Politik ist, zeigt sich aktuell vielleicht am deutlichsten an der Diskussion um die Novelle des Berliner Schulgesetzes, die noch in dieser Legislatur vom Abgeordnetenhaus verabschiedet werden sollte.

»Da geht es um einen fairen Umgang mit den Schulen in freier Trägerschaft«, hatte Berlins SPD-Landes- und -Fraktionschef Raed Saleh noch vor gut einer Woche überschwänglich der »Berliner Morgenpost« erläutert. »Wir wollen, dass sich diese Schulen öffnen für einkommensschwache Familien. Andererseits werden wir sie besser finanziell unterstützen.« Ja, »das Schulgesetz«, wie Saleh das Vierte Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes irreführend abkürzt: »Ich bin optimistisch, dass wir das hinbekommen.«

Mit Letzterem könnte er Recht behalten, bestätigt Regina Kittler, die Bildungsexpertin der Linksfraktion, gegenüber »nd«. Demnach soll eine Schulgesetzänderung Ende August im Bildungsausschuss des Abgeordnetenhauses beraten und anschließend noch in einer der letzten beiden Sitzungen vor den Wahlen am 26. September vom Berliner Landesparlament beschlossen werden.

Schulgeld und Selbstausbeutung

Allein, der von Saleh referierte Inhalt des Gesetzes wird in der Novelle mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt werden. Eine seit Langem angemahnte spürbare Öffnung der fast 150 Berliner Schulen in freier Trägerschaft für Kinder aus einkommensschwachen Familien wird die rot-rot-grüne Koalition in dieser Legislatur nicht mehr »hinbekommen«. Das steht bereits fest.

»Das Grundproblem ist und bleibt damit unsere Unterfinanzierung«, sagt DaKS-Vertreter Roland Kern. Die Zuschüsse des Senats an Schulen in freier Trägerschaft, wozu die DaKS-Schulen ebenso zählen wie die großen konfessionellen Schulen oder die Waldorfschulen, würden sich im Wesentlichen auf die Personalkosten beschränken, und auch dies nur zu 93 Prozent. Alle anderen Mittel müssten im Grunde selbst erwirtschaftet werden. Und gerade an den kleinen Privatschulen seines Verbandes laufe das zwangsläufig auf »eine Mixtur aus Schulgeld und Selbstausbeutung« hinaus, so Kern zu »nd«.

Ob die »freien Radikalen«, wie er die Schulen in seinem Verband nennt, wollen oder nicht: »Wir müssen Schulgeld nehmen.« Dass das für eine »Selektion« unter den Eltern sorge, sei ihm bewusst. Kern sagt, er würde das sofort ändern. »Wir würden gern in die Offensive gehen und Kinder aus weniger vermögenden Familien aufnehmen.« Nur dafür müssten eben die Zuschüsse erhöht werden. »Das kostet natürlich Geld, und das war offenbar nicht durchsetzbar, weil dieses Geld ja dann woanders eingespart werden muss.«

Pläne für die Schublade

Letztlich verschwindet damit einer der ursprünglichen Kernpunkte des im August 2020 gestarteten Projekts Schulgesetzänderung in der Schublade. Linke-Politikerin Regina Kittler ist an diesem Punkt dann auch durchaus angefressen. Dies umso mehr, als sich die Koalitionäre »nach langen Verhandlungen im März sogar einig waren«, so Kittler. Warum das Projekt nun trotzdem zu Fall gebracht worden ist? »Ich will es mal so ausdrücken: Es ist weder an der SPD noch an der Linken gescheitert.« Womit freilich nur noch die Grünen bleiben. Für Kittler ist der Punkt damit auch erledigt: »Irgendwann muss man auch sagen: Jetzt ist Schluss. Ich zumindest werde das Paket nach einem Jahr Verhandlung nicht noch mal aufmachen.«

Das »Paket«, von dem Kittler spricht, soll zu seinen besten Zeiten weit über 100 Seiten umfasst haben. Und es ging mitnichten nur um die Schulen in freier Trägerschaft genannten Privatschulen. Jede der drei Parteien des Mitte-links-Bündnisses platzierte hier ihre jeweiligen Kernanliegen. Mit einer umfangreichen Novellierung des Schulgesetzes sollten bis zum Ende der Legislatur so noch einmal bildungspolitische Akzente gesetzt werden. Bei der Linken etwa reichte die nicht eben kurze Reformliste von der Stärkung der Gemeinschaftsschulen, über den Verzicht auf die Kostenbeteiligung und eine sogenannte Bedarfsprüfung für den Hortbesuch bis einschließlich Klasse 4, bis zum Ausbau der inklusiven Schule.

Dass nicht alle Vorschläge der drei Parteien in den Gesetzestext einfließen würden, war klar. Dass am Ende von dem großen Wurf ein kleines Reförmchen übrig bleibt, hingegen nicht. Genau das sickerte Anfang dieser Woche nach einer Sitzung der Fraktionsspitzen von SPD, Linken und Grünen durch. Wie Regina Kittler berichtet, wird man es nun wohl mit einer radikal abgespeckten Version versuchen. Die vielleicht wichtigste verbliebene Neuerung: Jede Berliner Schule muss bis zum Ende des Schuljahres 2022/2023 ein Kinderschutzkonzept erarbeiten, mit dem gezielt Kindeswohlgefährdungen begegnet werden soll. Auch sollen unter anderem überfällige datenschutzrechtliche Bestimmungen zum Umgang mit digitalen Lern- und Lehrinhalten festgeschrieben werden. »Zudem wird die Bedarfsprüfung für den Hortbesuch abgeschafft, das immerhin ist eine ganz wichtige Sache«, sagt Kittler. Ansonsten müsse man sehen, ob man noch weitere Punkte in den Beschlusstext hinüberretten könne. Zuversicht klingt anders.

Zu den wohl definitiv abgebügelten Projekten gehört dabei nicht nur die von der Linken forcierte Ausweitung der bisherigen Kostenbefreiung für den Hortbesuch für die ersten beiden Klassen auf die Jahrgangsstufen 3 und 4. Auch die SPD muss auf eines ihrer Großvorhaben verzichten, das in ihren Reihen zuletzt vor allem Bildungssenatorin Sandra Scheeres offensiv vorantreiben wollte: die Abschaffung der obligatorischen Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss (MSA) in den 10. Klassen der Gymnasien.

Scheeres’ eigener Entwurf

Scheeres hatte im Juni im Senat einen eigenen Entwurf zur Schulgesetzänderung mit ebendieser MSA-Reform durchwinken lassen. Begründung: Die an den Gemeinschafts- und Sekundarschulen abzulegenden MSA-Prüfungen würden an den Gymnasien unnötige Ressourcen binden. Die Schülerinnen und Schüler hier würden in Jahrgangsstufe 10 bereits auf einem höheren Leistungsniveau unterrichtet werden als die in anderen Schulformen, mithin müssten sie sich für die MSA-Prüfungen mit Lernstoff beschäftigen, den sie schon lange hinter sich gelassen hätten. Künftig, so Scheeres’ Entwurf, solle der Übertritt in die gymnasiale Oberstufe, also Jahrgangsstufe 11, »durch eine Versetzungsentscheidung erworben werden«. Wer das nicht wolle, könne ja immer noch die MSA-Prüfung ablegen.

Linke-Politikerin Kittler kann sich noch zwei Monate später über die Pläne aus dem Haus der Bildungssenatorin echauffieren. Schon unmittelbar nach dem für viele überraschenden Vorstoß hatte sie angekündigt, dies mit aller Macht verhindern zu wollen. »Nein, tut mir leid«, sagt Kittler, »so was kann ich nicht mittragen.« Sie wüsste auch nicht, was dagegen spräche, dass Gymnasiastinnen und Gymnasiasten in der 10. Klasse ebenfalls Prüfungen ablegen. »Letztlich tut das doch jeder Schülerin, jedem Schüler gut.« So würden sie gestärkt in die Qualifikationsphase, also die 11. und 12. Klassen, gehen. Kittler sagt, dass sie aber auch davon abgesehen generell strikt dagegen sei, »die Gymnasien zu privilegieren«. Nicht nur in der MSA-Frage. Letztlich setze die Linke auf die »Schule für alle«, und das seien nun einmal die Gemeinschaftsschulen.

Gleichwohl ist es nicht so, dass Kittler den kompletten Gesetzentwurf der Senatsbildungsverwaltung in der Luft zerreißt. Vor allem mit der Verpflichtung jeder einzelnen Schule, ein Kinderschutzkonzept zu erarbeiten und dieses in das Schulprogramm aufzunehmen, habe die Bildungssenatorin »eine gute Sache vorgelegt«. Freilich auch eine überfällige. So war die Relevanz des Themas erst im vergangenen Jahr im Zusammenhang mit den Vorwürfen der Kindeswohlgefährdungen an der Staatlichen Ballett- und Artistikschule noch einmal deutlich geworden.

»Auch wir befürworten ein verpflichtendes Kinderschutzkonzept, auf jeden Fall«, sagt Susanne Kühne von »Schule muss anders«, einer Berliner Initiative, die im Frühjahr von Eltern, Schülern, Lehrkräften, Sozialarbeitern und Erziehern gegründet wurde. Zugleich mahnt die Mutter eines Viertklässlers aber an, »dass das beste Konzept nichts nutzt, wenn es nicht auch umgesetzt und kontrolliert wird«. Dass - zumindest in Scheeres’ Entwurf - die Gesamtkosten für die Einführung eines Kinderschutzkonzeptes mit 25.000 Euro veranschlagt werden, sei dabei »schon peinlich«, so Kühne zu »nd«. Mit den Geldern soll eine Handreichung für die Schulen erstellt werden. Ansonsten erfolge die Beratung des Personals vor Ort über die Schulpsychologischen Beratungszentren in den Bezirken, »sodass hierfür keine zusätzlichen Kosten entstehen«, wie es im Entwurf heißt.

Susanne Kühne schwant nichts Gutes, wenn hier kein Wort verloren wird über diejenigen, die sich später an den Schulen darum kümmern sollen: »Wir können es drehen und wenden, am Ende landen wir immer beim Grundproblem des Berliner Schulsystems: dem Mangel an Personal und Fachkräften.« Hier müsse sich endlich etwas tun, und zwar generell, fordert »Schule muss anders«. Auch deshalb haben Kühne und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter gerade eine groß angelegte Unterschriftensammlung an den Schulen gestartet, um unter anderem ihrer Kernforderung nach deutlich mehr Personal Nachdruck zu verleihen. Bis Mitte Oktober - und somit rechtzeitig zu den Verhandlungen für die nächste Berliner Koalition - will man genügend Unterschriften zusammenhaben. Kühne ist überzeugt: »Es besteht absoluter Handlungsbedarf. Ansonsten fliegt uns das alles früher oder später um die Ohren.«

Hoffen auf die Nachfolgerin

Bildungssenatorin Scheeres wird dann nicht mehr im Amt sein. Bereits 2020 hatte sie angekündigt, mit dem Ende der Legislatur ihren Posten zu räumen. Zur Schulgesetznovelle - oder besser: dem, was nicht unter die Räder der Koalitionsarithmetik gekommen ist - wollte sich Scheeres gegenüber »nd« nicht äußern. Das gebiete der Respekt vor dem Parlament, so ein Sprecher der Bildungsverwaltung. Der Ball liege nun bei den Fraktionen.

Der Vertreter der freien Alternativschulen, Roland Kern, baut derweil auf die nächste Senatorin oder den nächsten Senator. Er habe die Hoffnung, dass die Finanzierung der Freien dann noch einmal neu verhandelt wird. »Aber ehrlich gesagt, ob das kommt, das weiß kein Mensch, auch ich nicht.«

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