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Viele Kleinigkeiten lassen Islamisten attraktiv erscheinen
Vom Staat ausgeschlossen: Oumarou Makama über mögliche Motive der Radikalisierung in Niger
In Niger nimmt die Gewalt durch radikal-islamistische Gruppen seit Jahren zu. Seit Januar hat sich die Situation noch einmal verschärft, es gab einige besonders grausame Massaker. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Es gibt dafür viele Gründe. Einer ist, dass die Terroristen oder Kriminellen ihre Taktik geändert haben. Sie handeln nicht mehr alle unter einem Kommando, sondern haben viele kleinere Gruppen gebildet. Jede von ihnen führt Anschläge durch, sodass deren Zahl zunimmt. Einige stehen mit der Führung von Boko Haram noch nicht einmal in Kontakt.
In den sozialen Netzwerken kursieren Videos, die 300 oder 400 Milizionäre auf Motorrädern zeigen, wie sie in eine Stadt einfahren. Das macht nicht den Eindruck einer kleinen Gruppe.
Solche Auftritte dienen wahrscheinlich auch dazu, neue Mitglieder zu rekrutieren. Diese großen Gruppen bilden sich auf Kommando. Dafür werden alle Kämpfer, die ein Motorrad haben, in einer bestimmten Region an einem bestimmten Tag zusammengerufen. Obwohl sie dann sehr eindrucksvoll wirken, glaube ich nicht, dass sie irgendwo eine Basis haben, an der sehr viele Kämpfer dauerhaft versammelt sind.
Womit werben sie neue Mitglieder? Geht es immer um Religion oder besser gesagt: nur um Religion?
Nein, es geht natürlich nicht nur um Religion, das ist klar. Es ist wie in jeder Armee: Es gibt diejenigen, die von der Sache überzeugt sind. Es gibt andere, die dabei sind, weil sie darin einen Job sehen oder dem Sog der Gruppe folgen. Aber natürlich gibt es auch religiöse Motive.
Inwiefern kann es als Beruf verstanden werden, in einer Terrorgruppe Mitglied zu sein? Zahlt beispielsweise der Islamische Staat hier in der Region so etwas wie einen Sold?
Ja, es gibt Verdienstmöglichkeiten. Ich weiß nicht, wie hoch die Monatsgehälter sind oder ob die Kämpfer nach der Durchführung der Anschläge Geld bekommen. Vielleicht ist ihnen auch das Motorrad genug Lohn. In jedem Fall gibt es offenbar einen Gewinn durch Geld oder andere Werte. Wie sie das genau organisieren, weiß ich nicht.
Die staatlichen Sicherheitskräfte sind offenbar nicht in der Lage, die Bevölkerung zu schützen, obwohl sie seit Jahren aus dem Ausland unterstützt werden, unter anderem durch die USA, Frankreich und die Europäische Union. Der nigrische Staat bleibt der Bevölkerung in vielen Gegenden auch die meisten anderen staatlichen Leistungen schuldig, Gesundheit und Bildung zum Beispiel.
Ja, absolut. In all diesen Bereichen hat der Staat Schwachstellen - um nicht von Scheitern zu sprechen. Zum Beispiel im Vergleich zu Belgien, dort habe ich eine Weile lang gelebt. In Belgien war im Notfall an jedem Ort spätestens nach zwölf Minuten ein Arzt. Oder die Polizei. Sie rufen eine Nummer an und die Polizei kommt. Zu glauben, dass es bei uns diese Art von Staat gibt, ist illusorisch.Ich erzähle Ihnen ein Beispiel: Vorgestern gab es in Diffa eine Schlägerei zwischen jungen Leuten, einem der jungen Männer wurde mit einem Messer die Hand abgeschnitten. Er war nicht zwölf Minuten vom nächsten Arzt entfernt, sondern zwölf Tage vom nächsten Gesundheitszentrum. Damit will ich sagen: Natürlich gibt es bei uns ein Gesundheitssystem. Aber haben die Menschen wirklich Zugang dazu? Ist es effizient? Wenn man in der Hauptstadt Niamey lebt, kann man in die Notaufnahme des Krankenhauses gehen, aber wenn man kein Geld hat, wird man abgewiesen.
Die Bevölkerung ist also enttäuscht vom demokratischen Staat beziehungsweise dem Staat nach westlichem Vorbild?
Ich glaube, es geht um etwas anderes. Die französischen Kolonialherren wollten alles auslöschen, was den Islam ausmacht. Anstelle des Vorgefundenen führten sie einen laizistischen Staat nach französischem Vorbild. Ich sage bewusst nach französischem Vorbild, denn der Laizismus bedeutet nicht in allen Ländern das gleiche. Rund 60 Jahre später kommt der verdrängte Islam sozusagen durch die Hintertür wieder herein. In den meisten Bereichen hat der Islam in den Augen vieler Menschen inzwischen einen höheren Wert als das Modell des westlichen, laizistischen Staates. Sie sehen im Modell des islamischen Staates ein Modell der Solidarität. Die Umsetzung in die Praxis ist ein anderes Problem. Und vergessen Sie nicht: Der Islam garantiert das Paradies. So ein Angebot kann das säkulare Modell nicht machen. Das Versprechen der Ewigkeit, das ist doch was! Vor allem im Vergleich zu unserer Lebenserwartung, hier in Niger sind es 60 Jahre - und das bei mehr als 40 Grad im Schatten. Das sind vielleicht Kleinigkeiten, aber sie gehören zu den Dingen, die den Islam für Menschen attraktiv machen können. Nicht alle schließen sich deswegen gleich den Islamisten an, aber auch die kleinen Dinge helfen diesen Gruppen stärker zu werden.
Fühlen sich die Menschen in den ländlichen Gebieten vom Staat ausgeschlossen?
Unser Entwicklungsmodell wurde uns von der französischen Kolonialmacht aufgezwungen. In der Folge haben sich die Staaten in unserer Region auf die Städte konzentriert. Dieser Fokus ist vielleicht nicht überraschend, aber bei uns lebt nun einmal die übergroße Mehrheit der Menschen auf dem Land. Ich schätze, dass bei uns 20 Prozent der Bevölkerung sogar völlig abgeschieden leben, an Orten, an denen es kaum Wasser gibt, nicht einmal Trinkwasser. Diese Menschen merken nichts von der Existenz des Staates. Sie sind nicht nur wirtschaftlich abgehängt, sie fühlen sich dem Staat auch in keiner Weise zugehörig. Sie haben noch nie die nigrische Flagge gesehen, haben unsere Nationalhymne noch nie gehört, wissen nicht, wer Präsident ist. Diese Entfremdung oder Ausgeschlossenheit kann auch ein Nährboden für den Erfolg der islamistischen Terrorgruppen sein. Sie bieten immerhin eine Perspektive, auch wenn diese Perspektive grausam ist.
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