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Wo bleibt die Pleitewelle?
Die Zahl der Insolvenzen ist nach wie vor sehr niedrig. Aber es gibt eine Dunkelziffer bei Selbstständigen
Monatelanger Lockdown, fehlende Chips in der Industrie und zerrissene Lieferketten wichtiger Halbfertigprodukte, auf die Handwerk und Gewerbe angewiesen sind - es gibt viele »gute« Gründe für eine Pleitewelle in Deutschland. Und viele Ökonomen warnten in den vergangenen Monaten davor. Dennoch ist die Zahl der Insolvenzen nicht gestiegen, obwohl sie nach dem Auslaufen einer Ausnahmeregelung in der Pandemie inzwischen wieder angezeigt werden müssen.
»Seit Ausbruch von Corona gibt es die Angst vor einer hohen Pleitewelle«, schreibt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, in einer Analyse. »Einige Beobachter sprachen gar von einem Pleite-Tsunami, der eine Erholung der deutschen Wirtschaft vereiteln könnte.« Ob solche Sorgen berechtigt waren, ließ sich mittels der amtlichen Insolvenzstatistik lange nicht beantworten. Der Grund: Die Pflicht zur Anzeige einer Insolvenz wurde Ende März 2020 per Gesetz für Unternehmen ausgesetzt, deren Probleme auf die Corona-Pandemie zurückgingen. Ab Oktober mussten akut zahlungsunfähige Unternehmen zwar wieder eine Insolvenz anzeigen, nicht jedoch überschuldete Firmen. Als am 1. Januar die Anzeigepflicht für beide Insolvenzgründe wieder eingeführt wurde, gab es erneut eine Ausnahme, und zwar für die vielen Unternehmen, die staatliche »Novemberhilfen« beantragt hatten. Erst am 1. Mai wurde auch diese Ausnahme abgeschafft, sodass die Pflicht zur Anzeige einer Insolvenz wieder uneingeschränkt gilt. Eine Ausnahme, die am Dienstag verlängert wurde, bilden nun lediglich Unternehmen in den durch die Überschwemmungskatastrophe betroffenen Gebieten.
Da die Gerichte in der Regel sechs bis acht Wochen benötigen, um zu entscheiden, ob sie ein Insolvenzverfahren eröffnen oder mangels Masse abweisen, hätte die Pleitewelle spätestens im Juli einsetzen müssen. Aber weder im Juni noch im Juli ist die Zahl laut dem Internetportal »Insolvenzbekanntmachungen« gestiegen. Die dort von den Gerichten gemeldeten Verfahren entsprechen weitgehend den amtlichen Zahlen, die erst später veröffentlicht werden.
Der erstaunliche Befund hat mehrere Gründe. So wurde das für die deutsche Wirtschaft wesentliche verarbeitende Gewerbe lediglich vom ersten Lockdown hart getroffen. Danach hatten viele Firmen ihre Produktion rasch wieder hochgefahren. Außerdem profitierten sie vom Nachfrageboom, weil viele Konsumenten ihr Geld nicht für Dienstleistungen wie Urlaube ausgeben konnten und stattdessen mehr Güter nachfragten.
Auf den vielleicht wichtigsten Punkt weist die Bundesbank in einer Analyse hin. Die Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe hätten in den letzten zwei Jahrzehnten ihr Eigenkapital erheblich gesteigert, von unter 27 auf über 32 Prozent der Bilanzsumme. Ein komfortabler Wert, der die Widerstandsfähigkeit deutlich erhöht hat.
»Trotz des tiefen wirtschaftlichen Einbruchs durch die Corona-Pandemie konnten in Deutschland zahlreiche Arbeitsplätze erhalten und Insolvenzen verhindert werden«, heißt es mit Blick auf die staatlichen Rettungspakete in einer Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, die an diesem Mittwoch veröffentlicht wird. Freilich ist die Zahl der Industriebeschäftigten um 1,4 Prozent niedriger als vor einem Jahr.
Aber auch bei den Dienstleistungsunternehmen ist die Zahl der Insolvenzen nicht nennenswert gestiegen. Sie liegt nach wie vor deutlich unter dem Niveau vor Corona. Ein Aspekt: Die Dienstleister haben ebenfalls ihre Eigenkapitalquoten in den vergangenen 20 Jahren kräftig gesteigert.
Aber anders als das verarbeitende Gewerbe haben die meisten Dienstleister nach dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 einen zweiten, langen Lockdown durchlitten, der von Ende Oktober bis zum Frühsommer 2021 dauerte. Hotels und Restaurants waren über viele Monate geschlossen, Konzerte fielen aus. Das habe unweigerlich Kapitalreserven aufgezehrt und viele Dienstleister zum Aufgeben gezwungen, vermutet Commerzbank-Mann Krämer. Die offiziellen Insolvenzzahlen dürften daher das Ausmaß der Unternehmensaufgaben unterschätzen. Eine Ansicht, die andere Ökonomen teilen. Viele Dienstleistungsunternehmen firmieren nämlich als Personengesellschaften oder Einzelkaufleute. Sie sind anders als juristische Personen (GmbH oder AG) nicht verpflichtet, einen Insolvenzantrag zu stellen, und werden von den Statistikern übersehen.
Für eine nicht unerhebliche Dunkelziffer sprechen auch neue Erkenntnisse der Bundesagentur für Arbeit (BA). Danach hat sich die Zahl der Selbstständigen, die finanzielle Hilfe aus der staatlichen Grundsicherung beziehen, versechsfacht. BA-Chef Detlef Scheele sieht »einen deutlichen Corona-Effekt« in der Hartz-IV-Statistik.
Trotz solch blinder Stellen dürfte die Insolvenzstatistik auch zukünftig die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung widerspiegeln. Modellrechnungen erwarten bis Ende 2022 insgesamt rund 5000 zusätzliche Insolvenzen. Aber auch dann gäbe es bis Ende nächsten Jahres im Durchschnitt kaum mehr Pleiten als vor dem Corona-Ausbruch.
Selbst Unternehmen in Ostdeutschland sehen sich nun weniger bedroht. Das geht aus einer Umfrage des Ifo-Instituts hervor. Nur noch 13,8 Prozent der Unternehmen gaben an, dass ihre Geschäftstätigkeit gefährdet ist. Im Februar bangten noch 19,4 Prozent um ihre Existenz. Der Konjunkturaufschwung macht sich deutlich bemerkbar.
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