Werbung

Mehr Realitätssinn gegenüber Kabul

In Berlin wird gestritten, wer die Schuld am Desaster in Afghanistan trägt. Dabei sind andere Fragen wichtiger

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Nach dem Schock über das eigene Versagen und ersten hilflosen Erklärungsversuchen zu den Ursachen des Debakels in Afghanistan haben die politisch Verantwortlichen in Berlin wieder in den Arbeitsmodus zurückgefunden. Die Regierung beschloss am Dienstag einen Antrag zur – in akuten Fällen möglichen – nachträglichen Mandatierung des robusten Militäreinsatzes mit bis zu 600 Soldaten. Sie sollen mit US- und britischen Truppen sowie Soldaten anderer Nato-Staaten den Flugplatz von Kabul sichern und – so betonte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) bereits am Montag – »so lange wie möglich, so viel wie möglich« Menschen ausfliegen. Die notwendige Zustimmung des Parlaments will die Regierung in der kommenden Woche erbitten.

Am Dienstag tagten auch der Auswärtige und der Verteidigungsausschuss des Bundestages, um die beiden für die aktuellen Afghanistan-Versäumnisse haftbaren Minister zu befragen. Neben Kramp-Karrenbauer steht vor allem Außenamtschef Heiko Maas (SPD) parteiübergreifend in der Kritik. Doch je nach Nähe zur aktuellen Regierung und zu nach den Bundestagswahlen im September auszuhandelnden Wunschkoalitionen unterscheiden sich Ton und Schärfe.

Bereits vor der Sitzung hatte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen, von einem »dramatischen Scherbenhaufen«, einem »menschlichen Drama« und einer »politischen Katastrophe« gesprochen. Doch anders als der CDU-Politiker meint, ist das »moralische Scheitern des Westens« nicht erst nach der faktischen Machtübernahme der Taliban offenbar geworden, widersprechen Oppositionspolitiker und Hilfsorganisationen.

Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock warf Maas vor, komplett die Augen vor der Realität verschlossen zu haben. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) betonte, Maas habe das »größte außenpolitische Desaster seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland« zu verantworten. Rücktritt wäre ein wichtiger symbolischer Akt, um zu demonstrieren, dass man in höchsten politischen Ämtern noch Verantwortung übernehme. Der außenpolitische Sprecher der Linksfraktion, Gregor Gysi, ging noch weiter. Er verlangte, dass die gesamte Regierung bis nach der Bundestagswahl nur noch geschäftsführend im Amt bleibt.

Wie sind die Taliban einzuschätzen?

Ob eine derartige Debatte Wählerstimmen bringt? Einen Zugewinn an jetzt notwendiger politischer Handlungsfähigkeit ist so gewiss nicht zu erreichen. Ad-hoc-Hilfsmaßnahmen müssen in einen stabilen Mechanismus überführt werden. Noch gibt es kaum eine politische Abstimmung unter den einstigen Besatzungsmächten, die nun in neuer Art gefordert sind. Die USA machen erkennbar »ihr Ding«, die Verbündeten hängen in der Luft. Umso wichtiger ist es, dass von Experten, auch denen des Bundesnachrichtendienstes, Analysen und Dossiers erstellt werden. Was haben die Sieger noch gemein mit jenen blutigen »Gotteskriegern«, die bis 2001 das Land regierten und von der Nato aus Kabul vertrieben wurden? Wer sind die neuen Männer, die versprechen, das »Leben«, das »Eigentum« und die »Ehre« aller Afghanen – egal ob Mann, Frau, Kind – zu schützen. Das Islamische Emirat Afghanistan bietet jenen, die für das vertriebene Regime oder die Invasoren gearbeitet haben, eine Amnestie, verspricht »Diplomaten, Botschaften, Konsulaten und karitativen Mitarbeitern, ob international oder national«, dass sie nicht belästigt werden. Es bittet alle »Geschäftsleute, Industrielle und Investoren«, ihre Arbeit »normal fortzuführen«. Gegenüber allen Nachbarstaaten werden verlässliche und friedliche Beziehungen versprochen. Alles wahr oder böses Kalkül? Sicher ist, die Taliban sind kein monolithischer Block und die wichtigste Frage lautet: Sind die jetzt Herrschenden in der Lage, ihre Feldkommandeure an die Kandare zu nehmen, damit Racheakte unterbleiben?

Viele Antworten erhofft sich Berlin vom einstigen Sonderbeauftragten für Afghanistan. Markus Potzel hatte an den Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der damaligen afghanischen Regierung in der katarischen Hauptstadt teilgenommen. Jetzt ist er wieder in Doha, um alte Gesprächskanäle zu nutzen oder neue zu öffnen.

Viel wird davon abhängen, ob die Bundesregierung sich weiter in die Tasche lügt, was die realen Verhältnisse in Afghanistan betrifft. Einschätzungen wie »alle haben Angst vor den Taliban« oder »niemand vertraut der neuen Clique« sollten unterbleiben. Sie ignorieren, dass die Taliban seit Jahren weit über die Hälfte des Staatsgebietes beherrschen, weil sie in Distrikten und Provinzen parallele Regierungsstrukturen aufbauten und sich das Vertrauen vieler, vor allem traditionell orientierter Menschen erwarben. Sie betreiben Schulen, Krankenhäuser und ein Solidarsystem – oft geschickt finanziert mit Geldern, die aus dem Westen an die afghanische Regierung überwiesen wurden.

Ob es klug ist, nun gegenüber dem bettelarmen Land jede Entwicklungshilfe einzustellen? Auch diese Frage muss in Berlin und bei einer Videokonferenz der G 7-Staaten beantwortet werden, zu der US-Präsident Joe Biden in der kommenden Woche eingeladen hat.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.