- Wirtschaft und Umwelt
- Lockdown in Indien
Massenhochzeit ja, Unterricht nein
250 Millionen Kinder in Indien kommen in den nächsten Tagen zurück in die Schule – nach 17 Monaten
Der 3. August, hatte das Nachrichtenportal scroll.in ausgerechnet, war das Datum, das 500 Tage ohne Schule für die Masse der Mädchen und Jungen im entsprechenden Alter markierte. Mit dem strengen nationalen Lockdown, den Premierminister Narendra Modi im März 2020 kurz nach Pandemiebeginn verhängt hatte, wurde im Land das komplette Leben so massiv heruntergefahren wie kaum anderswo auf dem Globus. Bis Anfang Juni verkehrten nicht einmal Bahnen, Busse und andere Verkehrsmittel, waren die sonst turbulenten Straßen nahezu leer.
Zeitgleich mit allen anderen Maßnahmen, Kontakte und Aufenthalte jenseits der eigenen vier Wände zu minimieren, hatten auch alle Schulen den Betrieb eingestellt. Doch während ab Juni 2020 zumindest die meisten sonstigen Beschränkungen auf nationaler Ebene ein Ende hatten, blieben die Bildungseinrichtungen selbst dann weiter geschlossen, als zwischenzeitlich vielerorts sogar Kinos und Feierhallen für die typischen indischen Hochzeiten mit Hunderten Gästen wieder öffneten.
Seit Ende Juli nun laufen die Vorbereitungen, nach bald anderthalb Jahren Zwangspause auch das Bildungswesen wieder hochzufahren. Haryana nordwestlich der Hauptstadt Delhi war ein Vorreiter, als dort schon ab 15. Juli alle Neuntklässler*innen und Ältere wieder in die Schulen gelassen wurden, Schüler*innen der Klassenstufen 6 bis 8 folgten eine Woche später. Auch Gujarat, der Heimatstaat von Premier Modi, ließ zur gleichen Zeit zumindest die Schülerinnen und Schüler der Abiturstufe loslegen. Andere zogen Anfang August nach, mit Mitte des Monats laufen die Schulen nun wieder in gut der Hälfte Indiens, darunter die großen zentralen Flächenstaaten wie Maharashtra und Madhya Pradesh oder der bevölkerungsreichste Teilstaat Uttar Pradesh im mittleren Norden.
Wobei es in dem föderalen Bildungssystem markante Unterschiede gibt: Selbst in den »grünen« Staaten, wo die Einrichtungen wieder offen sind, betrifft das längst nicht alle Schüler*innen. So lässt die Regierung in Maharashtra in den ländlichen Gebieten noch die Erst- bis Viertklässler zu Hause, in Städten wie der Wirtschaftsmetropole Mumbai mit ihren 25 Millionen Einwohnern dürfen sogar erst alle ab der 8. Klasse aufwärts wieder am Präsenzunterricht teilnehmen. In jenen Dörfern, die offiziell coronafrei waren, hatte Maharashtra mit der Oberstufe aber schon ab Mitte Juli experimentiert.
Der Wille zur Wiederöffnung ist vielerorts groß, doch ebenso die Unsicherheit. Mit dem 1. September wollen nun etliche Staaten folgen, die bisher noch davor zurückschreckten, darunter Tamil Nadu ganz im Süden. Die dortigen Vorschriften lesen sich beispielhaft für viele andere Regionen: Vorerst Wechselunterricht mit jeweils 50 Prozent Anwesenheit, Mindestabstände, verschärfte Tests und kein Zutritt für Lehrpersonal oder Kinder mit Corona-Symptomen.
Während etliche Unionsstaaten auch die Lehrenden als spezielle Gruppe schon vorrangig geimpft haben, sind einige andere Maßnahmen in den Vorgaben mehr Papiertiger als praktisch überall umsetzbar – sei es in den Armenvierteln der Großstädte wie in kleinen Dorfschulen. Da fehlt es oft schon an Möglichkeiten zum Händewaschen ebenso wie an ausreichend Platz, um selbst bei Wechselunterricht mit immer noch 30 bis 40 Kindern in einem kleinen Raum Abstand zu halten. Es gibt sogar einzelne Regionen, die noch gar kein Wiederöffnungsdatum für ihre Schulen haben. Das seit zwei Jahren unter Zentralverwaltung stehende Jammu und Kaschmir hatte Ende April schon mal wenigstens die Abiturprüfungen durchführen wollen – musste aber abbrechen. Dort ist noch völlig unklar, wann erste Schüler wieder in den Räumen sitzen.
Für den Großteil der 250 Millionen Heranwachsenden ist der extrem lange Ausfall desaströs. In vielen Schulen sind schon Computer an sich Mangelware und eher veraltet, einen eigenen Laptop oder ein anderes mobiles Endgerät können sich nur Kinder reicher Familien leisten. Auch an Konzepten für Online-Unterricht, so er praktisch überhaupt machbar wäre, mangelt es. Hinzu kommt ein weiteres Problem: Mit der Schule fiel auch das warme Mittagessen aus, das Abermillionen armer Kinder landesweit vor Corona wenigstens eine vollwertige Mahlzeit am Tag garantierte.
Immerhin aber prüft die zuständige Behörde derzeit, ob der einheimische Corona-Impfstoff Covaxin, der etwa zwölf Prozent aller verabreichten Impfdosen ausmacht, im September auch für Kinder und Jugendliche zugelassen werden kann. Dies würde unter anderem für die Wiederöffnung der Bildungseinrichtungen mittelfristig etwas mehr Sicherheit geben. Auch die offiziellen täglichen Infektionszahlen sinken weiter, von 40 000 im Schnitt (Juli) auf aktuell Werte um 30 000.
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