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33 Tage Utopie statt Atomstaat

Mit einem weiteren Dokumentarfilm erinnert die Wendländische Filmkooperative das 1980 gebaute Widerstandsdorf bei Gorleben

  • Gaston Kirsche
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist ein langer Baumstamm, den etwa 40 junge Menschen gemeinsam über sandigen Boden tragen. Die Äste sind abgesägt, aber die Rinde ist noch dran. Dieser Baum hat kein Sägewerk gesehen, kommt direkt aus dem Wald. Im Vordergrund sind selbstgebaute Tische und Bänke zu sehen, im Hintergrund ein fachmännisch gezimmerter vieleckiger Bau – das Freundschaftshaus, zentraler Versammlungsort im Widerstandsdorf 1004. Die Filmaufnahme aus dem Mai 1980 zeigt eine Gemeinschaftsaktion, die typisch war für das Hüttendorf auf dem besetzten Platz, unter dem das Atommüllendlager Gorleben in einem stillgelegten Salzstock projektiert war. Hier, auf einem abgebrannten Waldstück in der Nähe des Dorfes Trebel war die vierte Probebohrung geplant – das Bohrloch 1004.

Roswitha Ziegler und die von ihr mitgegründete Wendländische Filmkooperative waren bereits 1980 mit Kamera und Tonband dabei. Ab 2018 haben sie mit »33 Tage Utopie« ihren siebten und wahrscheinlich letzten Gorleben-Film gedreht. Die neue Dokumentation ist eine geschickte Verflechtung von aktuellen Aufnahmen mit 40 Jahre zuvor entstandenen.

Die Besetzung des Bohrlochplatzes am 3. Mai 1980 durch mehrere Tausend Atomkraftgegner*innen ist Legende. Die Aktiven ließen sich von polizeilichen Warnungen nicht abschrecken. Schnell waren die ersten vorbereiteten Hütten errichtet. Mehrere Hundert Menschen bauten hier in den 33 Tagen bis zur Räumung durch den paramilitärischen Bundesgrenzschutz (BGS) und Hundertschaften der Bereitschaftspolizei am 4. Juni gemeinsam etwas auf. »Zuerst war es als Protest geplant, aber es wurde eine reale Utopie«, erinnert sich ein Bewohner, der mit anderen ausgebildeten Zimmerleuten damals das Freundschaftshaus errichtete.

Im neuen Film ist er zweimal zu sehen – einmal beim Hausbau vor über 40 Jahren, dann ergraut und mit Brille im Wald stehend, dort, wo 1980 das Widerstandsdorf stand.Mit seinem ersten Film, »Der Traum von einer Sache« von 1980, war das Team nah dran am »Anti-AKW-Widerstand«. AKW, das Kürzel für Atomkraftwerk, hatte damals einen bedrohlichen Klang. In der Bundesrepublik galt Atomkraft als Schlüsseltechnologie zur Lösung der Energieprobleme. Die Stromerzeuger sahen fantastischen Gewinnmargen entgegen. Auch in der DDR gingen Atomkraftwerke in Betrieb. Direkt an der Grenze, im Landkreis Lüchow-Dannenberg, der wie ein Zipfel in das Territorium der DDR hineinragte, sollte der gesamte westdeutsche Atommüll endgelagert werden.

Bis heute ist die Sicherung des radioaktiven Abfalls ein ungelöstes Problem. Um sich vom »Atomstaat« BRD abzugrenzen, und um zu zeigen, dass man alternative Vorstellungen davon hatte, wie Gesellschaft zu organisieren sei, richteten die damals Protestierenden am Eingang des Dorfes eine Passstelle ein: Für ein paar Mark konnte dort ein Ausweis der »Republik Freies Wendland« erworben werden. Niedersachsens Innenminister Egbert Möcklinghoff (CDU) befand, dort werde »Hochverrat« begangen. Wie viele damalige Entscheidungsträger war er unter Hitler Offizier gewesen. Im Widerstandsdorf wurde dagegen auf basisdemokratischen Umgang Wert gelegt. Und unübersehbar wehten über etlichen Hütten rote oder schwarzrote Fahnen.

Den Film von 1980 sah 2016 der junge Hamburger Archäologe Attila Dézsi im Kino. Ausgehend vom Ansatz der »zeitgenössischen Archäologie« beschloss er, Ausgrabungen am Standort des Widerstandsdorfes zu unternehmen und einen Feldversuch für seine Promotion zu starten. Die Arbeit von Dézsi und Kolleg*innen ist nun auch Gegenstand des neuen Films. Dank Satellitenaufnahmen und GPS-Daten konnten die Archäologiestudent*innen aus Hamburg genau dort graben, wo 33 Tage lang die Republik Freies Wendland existierte.

Dézsi sagt: »Nicht nur Menschen sprechen. Auch Dinge sprechen.« So kann er durch die Analyse von Müll Unterschiede zwischen dem Hüttendorf und dem Lager der Polizei und des Bundesgrenzschutzes aufzeigen, das damals ebenfalls im Wald aufgeschlagen wurde: Auf der einen Seite große Töpfe, Utensilien für gemeinschaftliches Kochen, wenig Plastik. Auf der anderen Seite: Einweggeschirr, Coladosen, Plastikbesteck, Portionsblechdosen.

Ein damals junger Bundesgrenzschützer erinnert sich im Film an die »EPA«, die Einmannpackung, das übliche Verpflegungspaket bei Bundeswehr und BGS. Er habe 1980 eigentlich gedacht: »Die Leute im Hüttendorf protestieren doch für uns alle.« Trotzdem blieb er im, wie er es nennt, »Männerbund« Bundesgrenzschutz.

Auch damals Studierende, Arbeiter, Lehrlinge, Bürgermeister, Biobauern, ein Architekt, ein Pfarrer, ein Schauspieler, erinnern sich lebhaft an die Zeit der Utopie. Der Pfarrer sagt, das Erlebte habe ihn radikalisiert. Die Grünen-Politikerin Rebecca Harms erinnert sich: »Ohne den Protest gegen die Pläne für das Atommülllager wäre mein Leben anders verlaufen.« 1980 war die damals 23-Jährige Sprecherin der Bürgerinitiative vor Ort. Die Ausgrabungen von Dézsis Team unterstützte sie begeistert.

Der Film endet mit den Originalaufnahmen von der Räumung: Die Besetzer*innen, werden mit Schlagstöcken auseinandergeprügelt und weggeschleift. Räumpanzer fahren auf, Hubschrauber landen. Anschließend wird mit Planierraupen Hütte für Hütte plattgewalzt. Attila Dézsi kann den Einsatz auch mit Gegenständen wie einem plattgewalzten Topf dokumentieren. Die Erzählungen vieler damals Aktiver im Film zeigen, dass sie nie aufgehört haben, widerständig zu sein und Gesellschaft ändern zu wollen.

»33 Tage Utopie«, Deutschland 2020, Regie: Roswitha Ziegler, Kamera: Niels Bolbrinker. Ausstrahlung in der Nacht zum Dienstag, 00.05 Uhr, auf Arte, bis zum 29.8. in der Arte-Mediathek

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