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Inklusion als Illusion
Fehlender Wille, falsche Versprechen und alte Gewohnheiten werden Japans Gesellschaft auch nach den Paralympics beschränken
Vor den Fahrstühlen prangt ein Schild mit einem Hinweis, der Mut macht: »Personen im Rollstuhl können jeden dieser Aufzüge nutzen.« Auch beim Eingangstor fiel schon auf, wie glatt und ebenerdig der Steinboden ist, der ins Abgeordnetenhaus führt. Und die Sicherheitsschranken, die sich nur mit einer Akkreditierung passieren lassen, sind breit genug für jede Art von Rollstuhl. Im japanischen Oberhaus, so scheint es beim ersten Eindruck, kann jede Person Politik machen.
Im siebten Stock reicht Takanori Yokosawa die Faust zum Gruß. »Sind Sie gut nach oben gekommen?«, fragt er sichtbar durch die Maske lächelnd und antwortet kurz darauf beinahe selbst: »Über die letzten Jahre sind wir hier schon viel besser geworden!« Yokosawa - seit 2019 Abgeordneter für die linksliberale Verfassungsdemokratische Partei, die stärkste Oppositionskraft - ist einer von drei Rollstuhlfahrern in der japanischen Parlamentskammer. So viele gab es in der Politik des ostasiatischen Landes noch nie. Schon dies bedeutet für Yokosawa Besserwerden: »Für uns wurden die Gebäude umgebaut. Im Plenarsaal ist jetzt eine Rampe, damit wir für unsere Reden besser ans Podium kommen.« An den festen Plätzen für die Abgeordneten sind Stromzuflüsse installiert worden, damit Elektrorollstühle laden können. Zugängliche Toiletten und Kantinen sind mittlerweile Standard. Aber der 49-jährige Politiker ist noch nicht zufrieden. »Ich glaube, wenn es um Barrierefreiheit insgesamt geht, sind wir immer noch schlechter als andere reiche Länder. Hoffentlich ändert sich etwas durch die Paralympics.« Tokio habe es nötig, sagt Yokosawa. Nein, die Stadt habe es verdient.
Nirgends auf der Welt leben in einem Ballungsraum so viele Menschen wie in der Region um Japans Hauptstadt. In Tokio selbst wohnen rund zwölf Millionen. Durch diverse angrenzende Großstädte, von denen Yokohama, Saitama und Kawasaki nur die größten sind, zählt die Metropolregion insgesamt rund 36 Millionen Einwohner. So dürften hier auch weltweit die meisten Menschen mit einer Behinderung leben. Entsprechend dem vom Internationalen Paralympischen Komitee (IPC) geschätzten allgemeinen Bevölkerungsanteil von 15 Prozent müsste der Großraum Tokio 5,4 Millionen Menschen mit einer Behinderung zählen. Mehr als Hamburg, München und Wien zusammen.
Den vielen Menschen ist viel versprochen worden. Als Tokio im Spätsommer 2013 das Austragungsrecht für die Olympischen und Paralympischen Spiele 2020 gewann, kündigten die erfolgreichen Bewerber an, Japans Hauptstadt werde die »lebenswerteste Stadt der Welt« - ein Vorbild für andere Metropolen. Im internationalen Vergleich der Lebensqualität schneidet Tokio schon länger gut ab. Aber wie sieht es nun für jene Menschen aus, die zwei Wochen nach Ende der Olympischen Sommerspiele mit den Paralympics in den Mittelpunkt rücken sollen - Menschen mit einer Behinderung?
Wer zum ersten Mal durch Tokio spaziert, ist oft beeindruckt. Fast überall finden sich auf Gehwegen Blindenstreifen, an denen sich Personen mit einer Sehbehinderung durch die Stadt navigieren können. Und vergleicht man das U-Bahn-Netzwerk mit London, New York oder anderen Weltstädten, steht Tokio tatsächlich besser da. »Vor allem in den letzten Jahren sind viel mehr Aufzüge in die Stationen eingebaut worden. Auch Rampen gibt es jetzt mehr«, sagt Yokosawa in seinem Büro.
Aber dies sei nur die »harte Infrastruktur«, betont der Abgeordnete. »Bei den Themen, die sich nicht einfach installieren lassen, sieht es schlechter aus. In Restaurants lassen sie mich manchmal nicht rein, weil ich im Rollstuhl sitze. Man wird einfach abgewiesen. Auch in Onsen-Bädern passiert mir das.« Anders als in der EU gibt es in Japan kein Antidiskriminierungsgesetz, das solche Ungleichbehandlungen verbieten würde. »Viele Menschen sind unsicher, wie sie mit Leuten mit einer Behinderung umgehen sollen. Und dann meiden sie Peinlichkeiten einfach durch Verschlossenheit.«
Takanori Yokosawa ist einer, der vergleichen kann. Er war 2010 in Vancouver paralympischer Athlet im Skifahren. Als Sportler hat er mehrere Regionen der Welt besucht, als Politiker steht er mit Vertretern anderer Länder in Kontakt. Denkt er an Japans Anstrengungen, eine inklusive Gesellschaft zu werden, kann er seine Enttäuschung nicht verbergen: »So viele Richtlinien wurden festgeschrieben. Das Bildungssystem sollte für alle Kinder gleichermaßen zugänglich sein. Im Sport sollte es keine Barrieren geben. Aber das ist alles noch nicht Realität. Und als Begründung heißt es immer, es fehle an Geld. Ich glaube, es fehlt auch an Willen.«
So ähnlich lässt sich wohl auch das bisher schwache Abschneiden Japans bei Paralympischen Spielen erklären. Im ewigen olympischen Medaillenspiegel belegt das Land Platz zehn, bei den Paralympics aber nur Rang 17. Vor fünf Jahren holte Japan in Rio keine einzige Goldmedaille und landete im Nationenvergleich gar nur in der unteren Hälfte, noch hinter mehreren Entwicklungsländern, die gerade im Behindertensport, wo es häufiger an teurer Ausrüstung fehlt, tendenziell schwächer abschneiden. Woran liegt das?
Der Soziologe und Experte für paralympischen Sport, Ian Brittain, glaubt einen Zusammenhang mit der Wertschätzung für Menschen mit Behinderung generell zu erkennen. In einem Artikel aus dem Jahr 2006 stellte der Professor der Coventry University die These auf, dass Teilnahme und Erfolge bei den Paralympics ein Indikator für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung eines Landes seien, insbesondere in Sachen Inklusion aller Mitglieder der Gesellschaft. Japan wäre demnach noch nicht sonderlich weit.
Hanno Jentzsch würde dem kaum widersprechen. In einem Videogespräch sagt der Japanologe der Universität Wien, der bis vor kurzem in Tokio lebte: »Der Ableismus ist in Japan noch immer sehr stark ausgeprägt.« Der Begriff beschreibt die soziale Bewertung von Menschen nach ihren Fähigkeiten, was Personen mit einer Behinderung tendenziell diskriminiert. »Man klammert sich in Japan häufig an einem bestimmten Standard fest, sieht diesen dann als ›normal‹. Auch beim Thema Behinderung wird oft unterschieden zwischen ›normalen‹ und ›behinderten Personen‹.« Jentzsch beobachtet dies zum Beispiel in Schulen oder am Arbeitsplatz, wo ein Mangel an Flexibilität im Umgang mit anderen Verhaltensweisen die Inklusion von Menschen mit Behinderungen erschwere. Statistiken aus dem Büro des Abgeordneten Yokosawa zeigen zudem, dass in verschiedenen Gegenden Japans nur rund zwei Prozent der Arbeitskräfte eine Behinderung haben. Der Großteil bleibt demnach faktisch vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. »Der Gedanke der Inklusion verbreitet sich erst seit wenigen Jahren, also mit etwas Verspätung im Vergleich zu westlichen Ländern. Aber die Idee ist angekommen. Die Umsetzung dauert nur etwas länger«, erklärt Jentzsch.
Und vermutlich ist der Startpunkt Japans auch ein anderer. Erst 2019 verabschiedete die Regierung ein Gesetz, durch das der Staat Entschädigungen an bis zu 25 000 Menschen zahlen muss, die zwischen 1948 und 1996 aufgrund einer intellektuellen Behinderung sterilisiert worden waren. Die Verantwortlichen hatten noch Ende der 90er Jahre argumentiert, dass dieses Verhalten rechtskonform gewesen sei. Reue stand allerdings lange Zeit kaum im Vordergrund. Ähnlich verhält es sich beim Thema Diversität, welches bis zur Entscheidung, dass die Olympischen und Paralympischen Spiele nach Tokio kommen sollte, wenig Beachtung gefunden hatte. In Japan herrschte lange Zeit das Narrativ vor, man sei eine homogene Gesellschaft, in der sich die meisten Mitglieder ähnlich seien. Damit werden von Konservativen bis heute gerne die geringe Kriminalitätsrate oder der relativ gute soziale Zusammenhalt in Gemeinden erklärt. Aber so wurden lange Zeit eben auch diejenigen vernachlässigt, die täglich vor besonderen Herausforderungen stehen.
Hiroyoshi Shinohara merkt das heute noch, da die pandemiebedingt um ein Jahr verschobenen Spiele von »Tokyo 2020« samt ihrem offiziellen Motto »Unity in Diversity« (»Einheit in Vielfalt«) längst den japanischen Sommer dominieren. »Ich bin sauer auf die Regierung«, sagt der 60-Jährige. Shinohara ist der Vorsitzende der Nichtregierungsorganisation »Kurumaisu shakai wo kangaeru kai«, was auf Deutsch übersetzt heißt: »Vereinigung für eine Gesellschaft, die Rollstuhlfahrer beachtet.« Ist der Leitspruch im Namen Realität geworden? »Leider noch nicht«, antwortet Shinohara per E-Mail. Eigentlich wollte der Mann, der nach Hirnblutungen seit 2015 selbst im Rollstuhl sitzt, auf einer Tour durch Tokio zeigen, woran es noch hapert. Doch die explosionsartig steigenden Fallzahlen in der Pandemie lassen ihn nun davor zurückschrecken, seine Wohnung im Westen Tokios zu verlassen. Deshalb hat er Tipps gegeben, was man sich ansehen solle, um die Lage für mobilitätseingeschränkte Personen zu verstehen. »Das Bahnfahren ist auf einigen Linien viel besser geworden«, schreibt Shinohara. Aber seine Reise genau planen - in puncto Ausgänge, Aufzüge und Umsteigemöglichkeiten - müsse man immer noch. Spontane Mobilität bleibt unrealistisch. Auch weil diverse Gebäude nicht barrierefrei sind.
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Dort, wo die Infrastruktur gut ist, machen nicht selten Mitmenschen die theoretische Barrierefreiheit zunichte. »Auf Toiletten, die für alle zugänglich sind, ziehen sich Personen oft um und besetzen damit die Räume, die eigentlich Menschen mit Mobilitätseinschränkung vorbehalten sind.« Bei U-Bahn- und Busfahrten durch Tokio fallen auch bei der »harten Infrastruktur«, wie der Politiker Yokosawa es genannt hat, schnell Grenzen auf. An den Bushaltestellen sind die Fahrpläne so hoch aufgehängt, dass man sie vom Rollstuhl aus nicht erkennt. Und meistens fehlt eine Überdachung. »Wir müssen dann im Regen warten«, ärgert sich Shinohara.
Nicht selten muss man mit einer Beeinträchtigung auch länger warten. Denn nicht jeder Busfahrer hat offenbar Lust, beim Anhalten die für das Einsteigen der Rollstuhlfahrer nötige Rampe auszuklappen. Die Fahrer müssten sich schließlich erklären, wenn sie die Fahrpläne nicht pünktlich einhalten. »Es gibt hier noch sehr viele strukturelle Probleme«, sagt der Abgeordnete Yokosawa. Er meint damit auch den Umgang des paralympischen Gastgeberlandes mit dem Parasport sowie die gesetzlichen Bestimmungen und deren konkreten Umsetzungen. Die Organisatoren von »Tokyo 2020« haben auf Anfrage erklärt, über eineinhalb Jahre lang gemeinsam mit Betroffenen, Experten und Politikern geplant zu haben, wie man eine inklusive Stadt bauen könnte. Ganz bis zum Ende gedacht haben sie noch nicht.
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