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Natur schauen vor den Toren Templins
Es muss nicht die berühmte Schorfheide sein: Gleich hinter der Templiner Stadtmauer laden Seen, kleine Wälder, Pferdehof und Moor zur Erkundung natürlicher Mitwelten ein. Das große Spektakel liegt im aufmerksamen Blick
Hinter der Templiner Pionierbrücke führt ein Sandpfad rechts von der Weinbergstraße zum Uferrundweg um den Stadtsee. Als ich im März zum ersten Mal den Hang hinunterstieg, richteten sich gerade Nebelkrähen in den Erlenbäumen zur Nacht ein. Sie flatterten unter Warnrufen auf, zogen senkrecht über den See, kehrten im Bogen zurück auf ihre Schlafbäume. Unter den Schwarzerlen, symbiotisch umarmt von ewig grünen Efeuranken, verstummte der Abendgesang der Vögel. Meine Stiefelschritte scheuchten Damwild auf. Erst kreuzten drei Rehe. Ein Spätzünder schoss hinterher. Schon waren sie nicht mehr auszumachen im milchig grauen Unterholz. Vom See her roch es feucht. Aus Richtung der Terrassensiedlung nach Feuerholz. Und der Abendstern tauchte zuerst im Wasserspiegel auf.
Auch diese vermeintliche Wildnis mit ihrem kreuz und quer liegendem Totholz, ist eine menschengemachte Kulturlandschaft. So diente der Weinberg, nomen est omen, als Weinbaugebiet vor den Toren der Stadt Templin, aus dem sich die Kirche Anfang des 16. Jahrhunderts eine halbe Tonne Wein Jahrespacht erbat. Und das Wäldchen, in dem nachts Rotfüchse und Dachse toben und tags Waschbären in Baumhöhlen schlummern, zählt keine 100 Jahre.
Bei Tageslicht zeigt sich der lang gestreckte Stadtsee, Teil einer eiszeitlichen Seenkette. Sein Zufluss erfolgt vom Bruchsee am östlichen Ende. Er ist etwa zweieinhalb Kilometer lang, die breiteste Stelle misst 650 Meter. Die maximale Tiefe beträgt neun Meter. Fast jede Witterung ist recht für das Spektakel zwischen Himmel und Wasser. Gerade wenn sich die Sonne durch tuschewasserfarbene Wolken bricht, den See in Abschnitte teilt und das Wasser in Ufernähe die Linienzeichnung einer Sandwüste wirft. Darüber fischen Schellenten und Gänsesäger.
Verlasse ich die Halbinsel, führt der Uferweg in östlicher Richtung vorbei an den Terrassengärten von Eigenheimen. Umgehend stoße ich auf das Symbol der Zivilisation schlechthin - die Eisenbahn. Jedenfalls als Miniatur. Mit 82 Millimeter Spurweite rollt sie etwa 100 Meter über Viadukte und durch Tunnel über einen Terrassengarten. Jeder Vorübergehende kann die Züge via Steuerungstaste am Zaun auf die Reise schicken.
Hinter der Badestelle Schinderkuhle steht ein Kiefernforst. Vom Wegsaum waldwärts wächst eine Kolonie aus Hohlem Lerchensporn. Es heißt, eine größere Dosis der Pflanze wirke hypnotisch. Für den visuellen Frühjahrsrausch reicht das Feld aus violetten Blütentrichtern. Hinzu kommt das Summen angelockter Feldhummeln, das sich mit dem fernen Motorbootsurren eines Karpfen-Anglers mischt.
Unerwartet liegt ein Riesenbleistift im Weg. Ein Biber hat eine Birke mit seiner berühmten Sanduhrtechnik angespitzt und gefällt. Die Rinden, seine Speise, abgenagt. Der nachtaktive Künstler selbst zeigt sich leider nicht.
Zwischen Stadt- und Bruchsee lichtet sich der Wald. Ich halte mich links, trete über den sohlenweichen Trockengrashügel, entstanden aus Rodung, extensiver Mahd und Beweidung. Mit den Fußknöcheln streiche ich an rötlichen Reiherschnäbeln. Verstreut entdecke ich porzellanfarbene Bänderschnecken zwischen Halmen. Auf dem Gipfel steht ein rostiger Turm, an dem Stromkabel im Wind klappern, die als Schneise durch die Waldgrenze fortschießen. Weiter unten ein paar fluffige Maulwurfshügel. Am Hügelfuß schillert das jahrtausendealte Aschbergmoor.
Der in Wegbeschreibungen versprochene Bohlenweg hindurch ist längst fortgeräumt. Ich kann mich dem Kesselmoor nur vom Ufer nähern. Noch im Winter nahm ich auf einem Baumstamm Platz, auf dem holzharte, karamellbraune Pilze siedelten. Die Schwarzerlen ragten wasserumringt auf Wurzelinseln. Sie gelten als Pionierbäume, wachsen schnell ins Licht und werden höchstens 120 Jahre alt. Jung für einen Baum. Nicht wenige Exemplare lagen - vom Sturm gekippt wie Mikadostäbchen. Dazwischen stand klares Wasser über dem kupferbraunen Laub. Verstreut wuchsen Sumpf-Seggen kopflos mit Fähnchen auf Halbmast, die im Sommer eine tückische Wiesenlandschaft zaubern.
In den Hitzemonaten schützt das Moor eine hohe Wand aus Schilf und Brennnesseln. Bei meinem dummen Versuch im Juni ins Zentrum vorzudringen, ziehe ich die meterlange Walzspur eines Konquistadoren im Gras. Ringelnattern nehmen Reißaus. Amseln stieben in den Himmel. Du kannst nicht zu jeder Zeit in jedes Habitat vordringen. Bis auf das kleine museale Areal ist der Sumpf längst unterworfen. Von Torfstechern wie Bauern, die das Kohlendioxid-Speichern der Moore nie sonderlich beeindruckt hatte. Aber es war auch Einkommensquelle von Saisonarbeitern, über deren Tätigkeit Fontane schrieb: »Die Arbeit ist schwer und ungesund, aber einträglich.«
Ich kehre zurück zum Bruchseeufer, wo ein Waldrebendickicht die Bäume gespenstisch umwölkt. Das machte das Mythenerfinden leicht. Die Erlen, so ein Aberglaube, standen mit Hexen und dem Teufel im Bunde: Färbte sich der Zellsaft durch die Sauerstoffverbindung an der Luft rot, nahm man es für Blut. Sprang die Axt in den Stamm, blutete die Ellefru, die sich darin verbarg.
Der Pfad führt zum ehemaligen Bahndamm mit einer Brücke über den Bruchsee. Und eine fußgängerfeindliche Straße zum Hotel Fährkrug, wo es über einen Buchenwald am Südufer nach Templin zurückgeht.
Noch ein Stück abgeschiedener geht es westlich vom Aschbergmoor am Netzowsee zu. Das Urteil einer Website, »geringfügiges touristisches Potenzial«, war mir dankbarer Hinweis. Im Sommer übernachtete ich auf dem ehemaligen Gestüt von Bruno Cassirer, dem Verlegersohn aus der großen Intellektuellen-Familie. Ich freute mich auf die Bibliothek. Aber sie birgt teils harte Kost aus dem parteipolitischen DDR-Kanon. Die neuen Besitzer sind nette Gastwirte, die nach der Jahrtausendwende übernahmen. Sie kümmern sich um zwanzig Pferde (zehn kleine, zehn große), zwei Zebus, drei Katzen, ein paar Enten und eine Hühnerschar.
»Nichts davon wird geschlachtet. Alles bleibt, bis es tot umkippt«, behauptet die Wirtin, als wir unter dem angenehmen Schatten einer hundertjährigen Rosskastanie stehen. Während sie erzählt, suche ich den Bienenschwarm in den weißen Blütenkerzen des Baumes. Was ich höre, ist die ganz normale Insektenlautstärke auf dem Land. Später erzählt der Wirt, dass die Wurzeläste der Kastanie die Kellermauern des Hauses aufbrechen. Ich schaue hin und sehe, wie eine Blaumeise in einer winzigen Kellerritze verschwindet.
Überhaupt Vögel: Vor dem Fenster meines schlichten Quartiers brütet ein Storchenpaar. Greift ein fremder Storch den Horst an, wird laut geklappert. Rauchschwalben fegen über die Pferdekoppeln und verschwinden waghalsig schnell wie kleine Flugzeuge in den Scheunenhanger, wo sie brüten. Es gibt Grauammern, und nur am Ruf erkennbare Wachteln in den Futterwiesen - bis zur nächsten Mahd jedenfalls. Abends kommen Fledermäuse. Der Bluthänfling nistet im Weißdorn. In Hofnähe noch zur Hecke geschnitten, stoppelt er sich zu den Futterweiden fort als ausgefranste, solitäre Büsche. Das andere Wort für Weißdorn, Hagedorn, leitet sich von »Hag«, einem von Hecken umstandenen Gelände ab. Leider ist die Grenzziehung mit Weißdorn nicht mehr üblich.
Nicht nur Marcel Proust stand vernarrt vor den duftenden Blüten, »die sich im fleischigen Weiß von Erdbeerblüten entfalteten«. Ökologisch atemberaubend, bietet Weißdorn Lebensraum für 30 Singvogel- und 150 Insektenarten, beherbergt allein 54 Arten von Schmetterlingsraupen. In den Heckenlücken wächst Pfaffenhütchen, das Universum der Gespinstmotten. Dicht an dicht kriechen die Raupen aneinander vorbei. Unzählige Marienkäfer lauern auf Nahrung. Darüber schweben beeindruckende Hornissen.
Von den Weißdornhecken aus stromerte ich über das weite Land. Durch den Wald ins alte Angerdorf Gandenitz. Zum stillen Netzowsee. Oder über Feldwege nach Templin. Auf dem Rückweg sah ich wieder Grundstücke, auf denen man mit Thujahecken dem Land zu entkommen sucht. Anders als Weißdorn, bieten sie Insekten und Vögeln keine Nahrung. Trost bot das letzte Grundstück vor dem Lindenhof als abendliches Ritual: Erst springt ein schwarzes Hengstpony vor einem alten Holzzaun. Vielleicht eines der Pferde, die man sich hier einfach so hält. Dann schlüpft eine braunweiß gestreifte Gartenkatze durch den Zaun. Ein Stück Weg stolziert sie neben mir her und spielt meinen treuen Hund, bis sie katzenhaft verschwindet auf Geheimpfaden im Rapsfeld. Ein Flur aus Gold im Abendlicht.
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