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Notstand im Paradies

In Frankreichs Überseegebieten sind die Gesundheitssysteme am Limit - und die Gesellschaften tief gespalten

  • Giorgia Grimaldi
  • Lesedauer: 4 Min.

»Auf den Korridoren wird gequetscht und gerangelt, Abstellkammern und Zelte werden zu Intensivstationen umfunktioniert, wir warten auf Sauerstoffnachschub … Wir sind frustriert und wütend«, sagt ein Sanitäter aus Guadeloupe. Für das lokale Pflegepersonal ist die aktuelle Situation besonders hart: Während viele Fake News über die Wirksamkeit und Nebenwirkungen der Impfung kursieren, mangelt es den Krankenhäusern an Ressourcen.

Sie sind Teil der EU und trotzdem spricht man fast nie von diesen entlegenen Teilen Frankreichs, den Überseegebieten. Mit insgesamt 14 Inselkomplexen und Gebietskörperschaften, die von Südamerika bis Neukaledonien den ganzen Erdball umspannen, teilt sich Frankreich mit Großbritannien einen fragwürdigen ersten Platz als größte Ex-Kolonialmacht, die ihre imperialistische Vergangenheit bis heute auf der Landkarte verzeichnet. Reisebegeisterte Europäer haben sicher schon von den Antillen, dem beliebtesten überseeischen Urlaubsziel in der Karibik, gehört. Allerdings meist nur in Verbindung mit paradiesischen Stränden, Rum und anderen Insel-Stereotypen. Doch derzeit beherrscht die vierte Covid-19-Welle das vermeintliche Paradies.

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Seit Ende Juli befindet sich die französische Karibik im Notstand, und im Lauf der vergangenen Woche spitzte sich die Lage zu: Über 700 neue Fälle und mehr als zehn Tote pro Tag auf Martinique ließen keine andere Maßnahme als den harten Lockdown zu. Guadeloupe zählt 43 aktive Cluster und pro Tag mehr als 1000 Neuinfektionen, die zu 92 Prozent auf die Delta-Variante zurückzuführen sind. Beide Inseln werden jeweils von ungefähr 380 000 Menschen bewohnt. In Französisch-Polynesien, einer Inselgruppe im Südpazifik mit 280 000 Einwohnern, werden 13 Prozent der Erkrankten in die Intensivstation eingeliefert, 98 Prozent von ihnen nicht sind nicht geimpft. Der aktuelle Rekord von Neuinfektionen liegt bei 1700 Fällen pro Tag. In alle Himmelsrichtungen - Karibik, Polynesien, Mayotte im Indischen Ozean oder Guyana in Südamerika - tonnenweise wird Sauerstoff von Frankreich gen Übersee geschafft. Gleichzeitig müssen die Patienten, die an schlimmen Krankheitsverläufen leiden, den Langstreckenflug nach Frankreich antreten, um behandelt zu werden, denn vor Ort mangelt es an Experten.

Die Strategie zur Bekämpfung des Virus ist auf dem gesamten französischen Gebiet die gleiche - impfen statt testen - doch der krasse Gegensatz der Lebensrealitäten zwischen dem Festland und den Überseegebieten verkompliziert die Lage: Die koloniale Vergangenheit scheint ein schlechter Nährboden für die französische Impfkampagne zu sein.

»Es herrscht ein gewisses Misstrauen gegenüber den Behörden«, so erklärt André Lucrèce, ein Soziologe und Schriftsteller aus Martinique, den aktuellen Unmut der überseeischen Bevölkerung und die Skepsis gegenüber der Impfung. Ältere Konflikte, etwa um die abgelehnten Reparationszahlungen an die Nachkommen der Sklaven oder auch die hohen Preise der aus Frankreich importierten Lebensmittel, hätten ihren Teil dazu beigetragen, dass die Menschen der französischen Regierung nicht vertrauen. Hinzukommt, dass laut lokalen Medienberichten die verantwortlichen Gesundheitsbehörden von Anfang an die Chance verpasst hätten, durch öffentliche Diskussion und Aufklärung den Fake News entgegenzuwirken und soziale Spannungen zu entschärfen. Das könnte die niedrige Impfbereitschaft erklären: Nur 20 Prozent der Überseefranzösinnen und -franzosen sind bisher vollständig geimpft. Und das, obwohl es nicht an Impfdosen mangelt. Mit etwa einmonatiger Verzögerung zum französischen Mutterland waren Vakzine auch in die fernen Landesteile ausgeliefert worden.

Um den Menschen zu helfen, versucht die Regierung nun den Mangel an Ressourcen auszugleichen. »Ich appelliere an die Solidarität unseres Gesundheitspersonals im französischen Mutterland, den Krankenhäusern in Übersee zu helfen.« Mit einer TV-Ansprache Mitte August mobilisierte Olivier Véran, der französische Gesundheitsminister, erfolgreich 300 Pflegekräfte und Sanitäter, die auf Staatskosten die Reise antraten. In einer zweiten Operation vergangene Woche wurden zusätzliche Betten, Beatmungsgeräte und Defibrillatoren, spezialisierte Fachkräfte und Module für mobile Intensivstationen ausgeflogen. Militärflugzeuge sollen zum Einsatz kommen, um den Patiententransport nach Frankreich zu gewährleisten.

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Doch einige Menschen werden nun auch auf eigene Faust aktiv und wollen dort ansetzen, wo die Regierung versäumt hat zu handeln. Auf den Karibikinseln haben bekannte Persönlichkeiten, darunter Ärzte, Juristen oder auch Influencer, das »Bürgerkomitee für Transparenz« gegründet. Ihr Kollektiv versteht sich als unabhängige und objektive Anlaufstelle für die Bevölkerung, die viele Fragen hat. Es will aufklären und Verschwörungstheorien, die vor allem in den sozialen Netzwerken rasant an Dynamik gewonnen haben, entkräften, indem Informationen inklusive Quellen geprüft und kostenlos zur Verfügung gestellt werden. »Wir sind nicht auf einem Kreuzzug, sondern wir wollen so viele objektive, überprüfte Informationen wie möglich liefern. Ohne Meinung und ohne Vorurteile.«

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