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Inklusionsmeister Leverkusen
Beim TSV Bayer 04 trainieren schon lange Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam – mit großem Erfolg
Vor großen Sportereignissen wie den derzeit in Tokio laufenden Paralympics hört Jörg Frischmann die Frage immer wieder: Wann und wie können Olympische und Paralympische Spiele verschmelzen? Der Leiter der Parasport-Abteilung bei Bayer Leverkusen beschäftigt sich seit Langem mit Inklusion – mit der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Die Vereinigung der beiden sportlichen Großereignisse hält er nicht für realisierbar. Und auch nicht für sinnvoll. »Es ist wichtiger, dass wir im Alltag unsere Strukturen zusammenführen«, meint Frischmann. Trainingsstätten, Physiotherapie, Fortbildungen: In Leverkusen profitieren Sportlerinnen und Sportler mit und ohne Behinderung von den gleichen Angeboten. »Wir haben uns schon für Inklusion stark gemacht, als noch niemand darüber gesprochen hat.«
Bei den Paralympischen Sommerspielen in Tokio ist das deutsche Team mit 133 Sportlerinnen und Sportlern vertreten. 14 von ihnen, also mehr als zehn Prozent, kommen aus einem Verein: TSV Bayer 04 Leverkusen. Darunter sind Sieger und Medaillengewinner aus der Leichtathletik wie Markus Rehm, Léon Schäfer, Johannes Floors oder Ingrid Bensusan. Es gehe in Leverkusen aber nicht nur um die Produktion von Edelmetall, sagt Jörg Frischmann, sondern auch um eine sozialbewusste Entwicklung des Parasports. Was sind die Ursachen dafür? Und was können andere Klubs von Leverkusen lernen?
Das Fundament stammt aus den frühen 1950er Jahren. Der Chemiekonzern Bayer unterbreitete seinen Mitarbeitenden, die im Krieg verwundet worden waren, ein Sportangebot für ihre Freizeit. In den 80er Jahren kam dann der Leistungssport dazu. Und schon sehr früh trainierten behinderte Leichtathleten, Schwimmer und Volleyballer zusammen mit nicht behinderten Sportlern. »Mit diesem Bewusstsein haben wir unsere Strukturen weiter professionalisiert«, berichtet Frischmann.
Seit 23 Jahren koordiniert der heute 58-Jährige den Parasport in Leverkusen. Er selbst lebt seit der Geburt mit Fehlbildungen an Händen und Füßen. Als Jugendlicher hat er viel ausprobiert, ging beispielsweise schwimmen, spielte Tischtennis. Bei den Paralympics 1992 in Barcelona gewann er Gold im Kugelstoßen, zudem studierte er an der Sporthochschule in Köln. Frischmann knüpfte Kontakte zu Krankenhäusern, Rehazentren und Selbsthilfegruppen. Aus seinem Netzwerk erhält er regelmäßig Nachrichten, wo Jugendliche nach einer Amputation oder nach einem Unfall Interesse am Sport entwickeln könnten. Als Ablenkung, als Therapie – oder als Karrierechance. 97 Prozent der behinderten Menschen in Deutschland haben ihre Behinderung im Laufe des Lebens erworben. Nur wenige schaffen es im Leistungssport an die Spitze.
Die Wege in Leverkusen sind vergleichsweise kurz zwischen Trainingshalle, Physiotherapie und Sportpsychologie. Viele Medaillengewinner waren für diese besonderen Bedingungen nach Leverkusen gezogen, weil es in ihren Heimatstädten keine barrierefreien Stützpunkte gab und Sportvereine wenig Interesse an Menschen mit Behinderung zeigten. »Unsere 6500 Behindertensportvereine können flächenmäßig gar nicht alle Bedürfnisse zufriedenstellen«, sagt Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes, DBS »Wir sind darauf angewiesen, dass sich auch Regelsportvereine noch mehr für behinderte Menschen öffnen.« Im Sitzvolleyball oder Goalball beispielsweise könnten Jugendliche mit und ohne Behinderung bei geringen Materialkosten gemeinsam Sport treiben und Verständnis füreinander gewinnen.
In Ländern wie Großbritannien, Kanada und den Niederlanden sind Sportler mit und ohne Behinderung in denselben Verbandsstrukturen organisiert, sie profitieren von den gleichen Prämienregeln, Nachwuchswettkämpfen oder Antidopingmaßnahmen. In Deutschland arbeiten der Deutsche Olympische Sportbund DOSB und der DBS eher nebeneinander. Das gilt auch für viele Fachverbände. Ein Beispiel dafür lieferten die Europameisterschaften in der Leichtathletik 2018 in Berlin: Die Wettbewerbe der olympischen und paralympischen Sportler wurden getrennt organisiert und vermarktet. Inklusive Ideen müssten nicht nur vom DBS, sondern auch vom DOSB bekannter gemacht werden, findet Beucher.
Bayer Leverkusen zeigt, wohin die Richtung gehen kann. Als Trainerin begleitete etwa Steffi Nerius den Weitspringer Markus Rehm an die paralympische Weltspitze. Nerius selbst war eine erfolgreiche Speerwerferin, gewann 2004 Olympisches Silber und 2009 den WM-Titel. Als ausgebildete Sportlehrerin kümmerte sie sich in Leverkusen um Kontakte zwischen Verein, Schulen und Sportinternat. Doch ein solches Interesse einer olympischen Sportlerin für den Parasport sei keineswegs selbstverständlich, sagt Jörg Frischmann: »Viele Trainer aus dem Olympiabereich trauen sich nicht heran an behinderte Menschen. Deswegen sollten wir Anwärter schon in der Grundausbildung mit dem Parasport konfrontieren.«
Frischmann und seine Mitstreiter entwickeln an der Basis inklusive Ideen. In einem der vielen Projekte turnen Grundschulkinder mit Behinderung mit ihren nicht behinderten Freunden und Geschwistern. Für Athleten höherer Altersklassen bemüht sich Frischmann um Kontakte zwischen Eltern und Prothesenherstellern. Etliche ehemalige und aktuelle Leverkusener Leistungssportler wie Heinrich Popow oder Markus Rehm haben selbst den Beruf des Orthopädietechnikers erlernt. Beide versuchen, durch ihre Bekanntheit andere Menschen für Sport, Spiel und Bewegung zu motivieren. Laut dem Teilhabebericht der Bundesregierung sind nämlich 55 Prozent der behinderten Menschen in Deutschland sportlich gar nicht aktiv.
Nur wenige Vereine in Deutschland verfolgen einen breiten Inklusionsansatz, im Umfeld von Bayer Leverkusen sind das im Rollstuhlbasketball zum Beispiel die Köln 99ers. Der Klub lädt auch nicht behinderte Menschen zum Training und zu Spielen ein, erzählt der Kölner Inklusionsaktivist Ali Alssalami vom Verein »Sozialhelden«: »Viele Leute haben Hemmungen, sich in einen Rollstuhl zusetzen. Aber wenn sie erst mal drinsitzen, sind die Berührungsängste ganz schnell weg.« Musterzentren wie jene in Köln und Leverkusen arbeiten seit Jahrzehnten daran, dass diese Hemmungen fallen. Durch die öffentlichkeitswirksamen Medaillen in Tokio können sie nun vielleicht wieder einen Schritt weitergehen.
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