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Die große Illusion
Die Koalition der Ahnungslosen am Ende ihrer Afghanistan-Mission
Seit 500 Jahren kolonisieren europäische Staaten und ihre nordamerikanischen Ableger die außereuropäische Welt. Das jüngste Beispiel in der langen Kette blutiger Eroberungen und gescheiterter Modernisierungen ist das unglückliche Afghanistan. Der Binnenstaat, der an Iran, Turkmenistan, Tadschikistan, Usbekistan, China und Pakistan grenzt (also von drei, oder, Indien mitgerechnet, von vier Atommächten umgeben ist), war seit eh und je als Puffer, Drehscheibe und Durchgangszone von hohem geopolitischen (»strategischen«) Interesse.
Komplett beherrschbar war er hingegen nie. Conrad Schetter hat in seiner »Kleinen Geschichte Afghanistans« das Scheitern der britischen Afghanistan-Intervention von 1838 und den Untergang der »Indus-Armee« bei ihrer Flucht aus Kabul im Januar 1842 auf wenigen Seiten zusammengefasst. Er schreibt, dieses »erniedrigende Erlebnis«, »die verlustreichste Niederlage ihrer Kolonialgeschichte« habe sich »im kollektiven Gedächtnis der Briten« tief eingebrannt.
Doch schon im September 1842 nahm die Kolonialmacht nach einem Rachefeldzug Kabul wieder ein: »Obgleich dieser Feldzug den Briten eine gewisse Genugtuung verschaffte, löste er nicht das Problem, wie es mit Afghanistan weitergehen sollte. Einerseits wollten sich die Briten so schnell wie möglich aus Afghanistan zurückziehen, da die Kosten für die Besetzung des Landes in keinem Verhältnis zu seinem ökonomischen Wert standen. Andererseits war jedoch kein afghanischer Verbündeter in Sicht, der in der Lage war, die Dinge in den Griff zu bekommen.«
Der heutige Leser erinnert sich nicht ohne Grausen der Freudschen Lehre, dass »erniedrigende Erlebnisse« in individuellen Lebensgeschichten wie in der Sozialgeschichte der Verdrängung verfallen, abgewehrt werden und darum unverstanden bleiben. Dass sie aber im psychischen Haushalt der allzu Vergesslichen als unerledigte weiterspuken und schließlich ihre Wiederholung erzwingen.
Am Ende der aktuellen Afghanistan-Strafexpedition war es der ungehobelte Immobilienmogul und US-Präsident Donald Trump, den viele Millionen ratloser US-Wähler für einen der Ihren hielten und der mit skurrilen Auftritten ein paar Jahre lang den politischen Repräsentanten des Weltkapitals mimte, der im Frühjahr 2020 zu dem Schluss kam, die Intervention in Afghanistan habe sich als Fehlinvestition erwiesen und sei darum abzubrechen. Der zwischen den USA und den Taliban Ende Februar 2020 in Doha (Katar) direkt (ohne Beteiligung der Verbündeten oder der afghanischen Regierung) ausgehandelte »Deal« sah schlicht den Abzug der US-Truppen bis April 2021 vor – im Tausch gegen eine Zusicherung der Taliban-Vertreter, künftig keine Angriffe auf die USA und ihre Verbündeten zu unternehmen.
Die große Illusion, für deren Aufrechterhaltung Zehntausende von Menschenleben geopfert und Milliarden Dollar und Euro verpulvert worden waren, zerplatzte wie eine Seifenblase. Trumps »Deal« wurde von seinem Nachfolger Biden nicht widerrufen, und die Folgen diskreditieren nun dessen Präsidentschaft. In Deutschland schienen die für den Bundeswehreinsatz Verantwortlichen von diesem »Deal« nichts zu bemerken. Sie ließen den Dingen anderthalb Jahre lang ihren Lauf, als sei nichts geschehen. Noch halb im Tagtraum der »Demokratisierung« Afghanistans befangen, wurden sie nun vom Einmarsch der Taliban in Kabul überrascht und stehen vor dem Faktum, dass es inzwischen technisch und politisch nicht mehr möglich ist, ein paar Hunderttausend afghanische Helfer (»Ortskräfte«) rechtzeitig zu retten, ganz zu schweigen von den Millionen Afghanen, die aus Angst vor einer neuerlichen Taliban-Herrschaft aus dem Land fliehen wollen.
Der sozialdemokratische deutsche Verteidigungsminister Struck suchte im Dezember 2002 die Beteiligung von Bundeswehrkräften am Afghanistan-Krieg mit der These zu rechtfertigen, »die Sicherheit der Bundesrepublik [werde] auch am Hindukusch verteidigt«. Später bezeichnete er »die ganze Welt« als das Einsatzgebiet der Bundeswehr.
Es lohnt sich, über Strucks Formulierung nachzudenken. Zunächst einmal ist »Sicherheit« ja nicht etwas, das sich »verteidigen« ließe. Man kann sicher (also unbesorgt) sein oder auch einer Sache sicher sein, beim Schießen gibt es die sichere Hand, beim Schließen das sichere Urteil, einen »sicheren Ort« kann man ohne Sorge, verfolgt zu werden, aufsuchen, und schließlich werden »Sicherheiten« verlangt, wenn es um Kredite geht.
Struck aber sprach von einer »Sicherheit« der Republik, die verteidigt werden müsse.
Keine Rede war von der Befriedung Afghanistans und schon gar nicht vom Schutz der deutschen Bevölkerung vor aktuellen Gefahren, die keineswegs vom »Hindukusch« ausgingen (oder ausgehen), sondern vom xenophoben Terror gegen »Fremde«, der in den neunziger Jahren schon mehr als 100 Opfer gekostet hatte, vom Wiederauftauchen des verdrängten NS-Untergrunds und von den »Untergangsmagneten« – den seit den Tagen des »Kalten Kriegs« in Deutschland eingelagerten US-Atombomben. Strucks einziges »Sicherheits«-Thema war der US-Vergeltungskrieg gegen Al-Qaida und die unbotmäßigen Taliban, die die afghanische Bevölkerung terrorisierten.
Verdatterte Politiker der deutschen Regierung stimmen nun aber erst einmal ein Loblied auf das Bundeswehr-Kommando an, das zum Schluss noch 5 200 deutschen und afghanischen Flüchtlingen aus Kabul heraushalf. Sie tun das in der Hoffnung, dass darüber in Vergessenheit gerät, was die Bundeswehr in Afghanistan eigentlich sollte und dass die deutsche Regierung (und ihr Nachrichtendienst) die aktuelle Notlage der Flüchtlinge selbst mitverschuldet haben. Unsanft aus ihren Träumen geweckt, finden Kanzlerin und Kabinett sich in einem höchst realen Albtraum wieder, und es ist bemerkenswert, wie rasch sie sich auch mit der neuartigen Rolle der Bundeswehr abfinden, die nun als Fluchthelfer und Schleuser fungiert.
Im Hintergrund aber stricken, nachdem der US-Kreuzzugs-Mythos diskreditiert ist, Nazis und Konservative längst an einem neuen. Der Fantasie, die wilden Taliban (wie alle »Feinde unserer Freiheit und Sicherheit«) zähmen oder massakrieren zu können, folgt nun die hysterische Furcht, Heerscharen fremdartiger, darum höchst gefährlicher Afghanistan-Flüchtlinge stünden demnächst vor den Toren Europas, um die Einheimischen zu überrennen.
Was die Menschen in Deutschland und ähnlich privilegierten Ländern unablässig »irritiert« und »verunsichert«, ist, dass die Folgen der profitorientierten Wirtschaftsweise nicht nur die außereuropäisch-außeramerikanische Welt verheeren, sondern auch in den Zentren der kapitalistischen Entwicklung spürbar werden, die nun von neuartigen Unwettern (Fluten, Stürmen, Dürren), von »chinesischen« oder »afrikanischen« Krankheiten und Flüchtlings-»Wellen« heimgesucht werden.
Ihre politischen Tranquilizer aber sind, wenn die Katastrophe der Politik, die sie als »alternativlos« anpriesen, eingetreten ist, stets rasch bei der Hand, um das Tor zur ruinösen Vergangenheit, die sie uns eingebrockt haben, hinter sich zuzuschlagen. Und lauthals zu verkünden, jetzt gehe es nicht darum, darüber nachzudenken, wer wann was falsch gemacht habe (wer also dafür »verantwortlich« sei). Eilig salvieren sie sich und ihre Wähler, indem sie sie aufrufen, unentwegt nach vorn zu blicken, wo uns freilich nichts anderes erwartet als die dem Vergessen überantwortete Vergangenheit: die Wiederholung aller Fehler, die nie als solche benannt wurden und für die sich nie jemand verantworten musste.
Am 15. August 2021 zerriss (wieder einmal) der Schleier der kollektiven Illusion, dass die Oasenbewohner des Westens sich die sie umgebende Weltwüste mit Geld und Waffen dauerhaft vom Leib halten könnten. Und dass die bedeutendste Wirtschafts- und Militärmacht das Wunder zustande bringen werde, in ein paar Jahren oder Jahrzehnten ein rückständiges und von jahrzehntelangen Kriegen verheertes Land mit Hilfe modernster Destruktionsmittel nicht nur dauerhaft zu befrieden, sondern es auch noch zu »demokratisieren« (was immer das heißen mag).
Timothy Kudo schrieb in der »New York Times«: »Jetzt [aus Afghanistan] abzuziehen, mag für Amerika die richtige Entscheidung gewesen sein, doch es ist eine Katastrophe für die afghanische Bevölkerung, die wir betrogen haben.« Nicht nur Präsident Obama, auch die hauptverantwortlichen Kommandeure, die für das jetzige Desaster verantwortlich sind, verdienten keine Bewunderung, so wenig wie diejenigen, die sich nun Tag für Tag darüber wundern, »dass wir den besten Teil unseres Lebens einer solchen Lüge opfern konnten«. Denn Wähler und Soldaten haben es in den USA wie in der Bundesrepublik versäumt, gegen eine Regierung zu rebellieren, die sie in das hoffnungslose Afghanistan-Abenteuer hineingeführt hat.
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