Inquisitoren des Rechtsstaats

JEJA NERVT: Über den Umgang mit dem mutmaßlichen sexuellen Übergriff bei der Initiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« - und dem Rest der Gesellschaft

  • Jeja Klein
  • Lesedauer: 4 Min.

Gut drei Wochen vor dem Volksentscheid »DW & Co enteignen« hat der Berliner »Tagesspiegel« es geschafft, einen Konflikt um einen mutmaßlichen sexuellen Übergriff dazu zu nutzen, Stimmung für mafiöse Immobilienkonzerne zu machen. Eine Aktivistin der Kampagne hat einem Gründungsmitglied vorgeworfen, ihre Hand an sein erigiertes Glied geführt zu haben. Stets an der Grenze dazu, zu behaupten, die Aktivistin habe den Übergriff gegen sich erfunden, werden die internen Konflikte um den Umgang als Beleg missbraucht, dass es sich bei den Enteigner*innen um sektiererische Komplett-Verrückte handele.

Der Beschuldigte, ein 69-jähriger Kreuzberger, gibt sich überrascht. Die Initiative, die er mitgegründet hatte, falle plötzlich »hinter die Werte und Normen der bürgerlichen Aufklärung zurück und landet im 15. Jahrhundert«. Damit nicht genug: Die ehemaligen Genoss*innen zeigten »sektenhaftes und dschihadistisches Verhalten« - ein so abstrus überzogener Vorwurf, dass man ihn beim »Tagesspiegel« dankbar mit aufnimmt. Die geweckte Assoziation: Die Enteigner*innen von Berlin sind so far out wie die Taliban, die gerade in Kabul eingefallen sind und Frauen unter blaue Bettlaken zwingen. Doch wie kommt einer, der eine Kolumne auf einem Onlineportal »der revolutionären Linken« hatte, dazu, nach Jahren festzustellen, dass er die ganze Zeit mit blutrünstigen Halsabschneidern aus dem Spätmittelalter im Boot saß? Hätte so ein Kolumnist die Truppe dann nicht eher verlassen, ja, uns ahnungslose Wähler*innen früher über die beklemmenden Vorgänge an Berliner Plenumstischen aufklären müssen?

Jeder in linken Bewegungskreisen weiß, dass seit Jahren und Jahrzehnten ein ständiger Krieg rund um die insbesondere von linken Männern fortwährend begangenen sexuellen Übergriffe und Vergewaltigungen herrscht. Und mit der MeToo-Bewegung sind ursprünglich in linken Kreisen erarbeitete Grundsätze wie derjenige, den Frauen erst einmal Glauben zu schenken, statt den in uns allen angelegten Täterschutzreflexen nachzulaufen, längst in den Mainstream eingesickert. Jetzt aber soll sich eine linke Initiative schuldig gemacht haben, dass sie rechtsstaatlichen Prinzipien nicht genüge.

Doch eine linke Gruppe ist, genauso wenig wie ein Freund*innenkreis oder eine Familie, ein Staat, ein Rechtsstaat gar. Menschen suchen sich mehr oder weniger freiwillig aus, mit wem sie sich wie an einen Tisch setzen. Dass allerlei »unaufgeklärte« Impulse regulieren, wer in welcher Clique mitspielen darf, ist kein Verstoß gegen das Prinzip. Es ist das Prinzip selber. Eine »Unschuldsvermutung« ist hingegen ein Grundsatz, an den Ermittlungsbehörden und Gerichte gebunden sind, nicht aber zwischenmenschliche Beziehungen. Sie würden ihre Kinder schließlich auch nicht in einer Kita abgeben wollen, in der einer arbeitet, gegen den die Polizei gerade - Unschuldsvermutung, ja - wegen »Kindesmissbrauchs« ermittelt. Dass Sie keine bessere Antwort auf diese Widersprüche des Lebens haben, macht Sie indes nicht zum Islamisten.

Beendet die Gewalt gegen Queers! Das weltoffene Berlin bleibt ein Hotspot queerfeindlicher Gewalt. Es kann lebensgefährlich sein, als queer wahrgenommen zu werden

Der »Tagesspiegel« schreibt, die »von der Aktivistin gemachten Schilderungen seien womöglich nicht korrekt« (wow!), und zwar, weil die Beteiligten auf der fraglichen Veranstaltung nie allein gewesen seien. Doch wieso sollte eine Frau, die einen Übergriffsvorwurf »frei erfinden« möchte, dazu ausgerechnet eine große Kampagnenveranstaltung als Schauplatz wählen? Wie blöd wäre das denn? Aus MeToo kennen wir Fälle, in denen Männer Frauen sogar vor laufender Kamera angreifen konnten, ohne dass Umstehende die Courage aufgebracht haben, einzugreifen. Warum? Weil wir alle grundlegend überfordert sind, mit den Abgründen sexueller Gewalt umzugehen, wie sie sich sowohl durch unsere Kultur als auch durch unsere eigenen Persönlichkeiten ziehen. Und weil wir die Konsequenzen erahnen: Täter werden alles tun, ihre Charakterneigung zu verstecken. Im Zweifelsfall reißen sie ganze Bewegungen mit in den Abgrund, als sich selber zu stellen. Das liegt nicht nur in der Natur der Sache. Darüber herrscht auch ein gewisser »Erfahrungsschatz« vor. Vor allem bei ihren Opfern.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.