- Berlin
- Neukölln
Arm, teuer, widerständig
Bezirksserie zur Berliner Wahl Teil 10: Neukölln wird nicht nur vom S-Bahnring geteilt, sondern auch von sozialen Fragen entlang von Herkunft
Es regnet in Strömen um 8 Uhr an diesem Freitagmorgen. Das Jobcenter Neukölln passt sich hier im Rollbergviertel, im nördlichen Teil des Bezirks Neukölln, farblich perfekt in das graue Wetter ein. Ein wenig Kontrast immerhin verbreitet das knallrote Lastenmobil der Neuköllner Linksfraktion, die trotz der für Ende August untypischen Witterung ihren Informationsstand aufgebaut hat.
Wahlkampf heißt für die in Neukölln lebenden Linkspartei-Abgeordneten nicht nur, aber auch heute, vier Wochen vor den Berliner Superwahlen, für Sanktionsfreiheit und gegen das System Hartz IV zu kämpfen. »Um drei Euro sollen die Regelsätze erhöht werden, das ist eine kleine Portion Baklava«, empört sich Lucia Schnell, die am 26. September von Neukölln aus direkt in den Bundestag einziehen will. Sie hält eine Packung besagter Süßspeise in die Höhe, während ihre Genossin Maya Eckes einen Film mit dem Handy dreht. Schnell wurde mit knapp 97 Prozent zur Direktkandidatin gewählt, sechs Jahre lang führte die 42-Jährige den Bezirksverband ab 2012. »Das System Hartz IV muss überwunden werden, es führt dazu, dass Zehntausende Menschen in Neukölln in Armut leben, zusammen mit ihren Kindern«, sagt Schnell. Es sind mindestens 22.000 Kinder im Bezirk, die betroffen sind, es gibt Quartiere, in denen 75 Prozent der Grundschüler*innen von der Zuzahlung zu Lehrmitteln befreit sind.
- Neukölln wurde 1920 im Zuge des Groß-Berlin-Gesetzes eingemeindet und nach der damaligen Stadt Neukölln benannt.
- Bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen 2016 erhielt die SPD mit 27,3 Prozent der Erststimmen und 30,4 Prozent die meisten Stimmen, gefolgt von CDU (19,4 und 16,3 Prozent) und Grünen (16,2 und 14,9 Prozent). Die rechte AfD lag in beiden Fällen (13,9 und 12,7 Prozent) vor der Linkspartei (12,6 und 12,2 Prozent).
- Bei den Bundestagswahlen 2017 erhielt die Linkspartei in den Wahlkreisen 1, 2 und 3 jeweils die meisten Stimmen (27,5, 32,3 und 28,7 Prozent). clk
Armut, Gentrifizierung, Rassismus - was die diverse, zur Hälfte migrantische Bevölkerung Neuköllns alltäglich prägt, dringt weniger nach außen als die häufig vor allem medial geführten Debatten um angebliche Clan-Kriminalität. Darum, dass auch der sogenannte Neukölln-Komplex, die jahrelange rechte Terrorserie, deren mutmaßliche Protagonisten lebensbedrohliche Anschläge verübten, aber weiter offen in der rechten Szene aktiv sind, Aufmerksamkeit erhält, müssen Aktivist*innen und Unterstützer*innen hingegen schwer kämpfen. Auch Mieterhöhungen bis zu 140 Prozent, die in den vergangenen zehn Jahren die Wohnkosten zwischen Gropiusstadt und Hermannplatz haben durch die Decke gehen und für viele Menschen unbezahlbar werden lassen, beschäftigen vor allem die Betroffenen.
Ursachen wie soziale Ungleichheit, Armut an Bildung und Teilhabe, strukturelle und behördliche Diskriminierung waren für führende Bezirkspolitiker*innen in den letzten 20 Jahren kein großes Thema. Aber umkrempeln wollten und wollen ihn viele, den ehemaligen Westberliner Arbeiterbezirk im Südosten der Stadt. Vor allem SPD-Politiker*innen mit einer starken Affinität zu sanktionspolitischen Maßnahmen: Auf Heinz Buschkowsky folgte 2015 Franziska Giffey, auf Giffey Martin Hikel. An seiner Seite häufig medial präsent ist der CDU-Hardliner Falko Liecke, der als Gesundheitsstadtrat zuletzt in der Bekämpfung der Corona-Pandemie weniger durch Bevölkerungsnähe als durch Sozialchauvinismus auffiel. So sprach er öffentlich von »schwierigen Bevölkerungsgruppen«, die »abgeschottet leben«, als es um Quarantäne-Anordnungen für ganze Häuserkomplexe ging.
Der ehemalige Mathe- und Politiklehrer Hikel ist da anders. Der 35-Jährige versuchte zwar zuletzt, sich im Fahrwasser seiner Vorgänger*innen in der sogenannten Clan-Debatte zu profilieren, steht aber genauso auf Hoffesten von Hausgemeinschaften, deren Mietshäuser vom Aufkauf durch Investoren bedroht sind oder auf Demonstrationen gegen Antisemitismus. Den konsequenten Umbau seiner Verwaltung zu einer sichtbar diversen Behörde betreibt er weniger pädagogisch als Besuche bei syrischen Ladenbetreibern auf der Sonnenallee, nachdem ihre Schaufenster mit Hakenkreuzen beschmiert wurden. »Sie können immer zu mir kommen, wenn Sie Probleme haben«, gibt er ihnen in einem kleinen Imagefilm zusammen mit seiner Karte über die Theke. Dass diese Haltung bei vielen nicht-migrantischen Wähler*innen verfängt, dürfte Hikel mit ziemlicher Sicherheit eine weitere Legislatur und der SPD im Bezirk die meisten Stimmen bescheren.
Allzu belehrend geht es bei der Neuköllner Linken an diesem Morgen im Nordneuköllner Rollberg, in dem seit Jahren Armut und Gentrifizierung miteinander ringen, nicht zu. Es gibt heißen Kaffee, Kekse, Informationsbroschüren in verschiedenen Sprachen zu Hartz IV. Und es gibt Katja Kipping, die ganz nonchalant zwischen ihren Berliner Genoss*innen steht und berichtet, dass sie sonst vor allem in Dresden unterwegs ist, um die Menschen dort bei ihren in der Regel harten Auseinandersetzungen mit der Arbeitsagentur zu unterstützen. »Wir versuchen regelmäßig mit unseren Gesprächsoffensiven bundesweit vor Jobcentern präsent zu sein«, sagt Kipping zu »nd«. Sie hilft dann schnell beim Einpacken, als der nächste Schauer die kurze Sonnenpause beendet. Die ehemalige Bundesvorsitzende der Linkspartei ist unter Menschen lässiger als auf den großen politischen Bühnen, unauffällig bis auf ihre rote Jacke steht sie den Neuköllner Kandidat*innen zur Seite, die in diesen Wochen ihre Vorstellung von einer sozial gerechten Stadt in dem dicht besiedelten Bezirk an die Leute bringen wollen.
Weil sie dabei viel Energie in den Straßenwahlkampf stecken, bestätige sich anhand der »positiven Resonanz« bei zahlreichen Angesprochenen der Eindruck, der nach den Ergebnissen der Bundestagswahl 2017 entstanden ist, sagt Jorinde Schulz, die im Wahlkreis 2 für Die Linke im Abgeordnetenhaus kandidiert: »Wir können in drei Nordneuköllner Wahlkreisen die stärkste Kraft werden.« Die Kulturarbeiterin, die sich unter anderem in der Initiative Kein Generalverdacht gegen die pauschalisierende Verurteilung von migrantischen Familien als »kriminelle Clans« engagiert, erklärt gegenüber »nd«, sie erlebe den Bezirk als »widerständig«.
Weil, wie sie sagt, »die Menschen an der repressiven Politik leiden«, die hier ausgehend von Rathaus und Behörden mit Ordnungsmaßnahmen und Diskriminierung anrücke. »Wir wehren uns mit diesen Menschen gegen dieses rassistische Projekt mit Ansage«, erklärt Schulz die Rolle der Linken in den Auseinandersetzungen um von massivem Polizeiaufgebot begleiteten Razzien in Shisha-Bars und Kleinbetrieben. Der Hass, der mit der Clan-Debatte geschürt worden sei, habe zu konkreten rechten Angriffen geführt, sagt die junge Politikerin auch.
So konkret wie die Bedrohung, die für viele der Mietenwahnsinn, der ausgehend von Investorendruck und Privatisierung in die Kieze drückt, darstellt. Der Signa-Deal am Hermannplatz, mit dem der Immobilienriese das optisch den Platz beherrschende Gebäude von Karstadt Galeria Kaufhof in einen Luxusklotz verwandeln will, ist nur ein Ausdruck zielgerichteter politisch ungezügelter Aufwertung, die Verdrängung nach sich ziehen wird. Auch die zahlreichen Vorkäufe von Mietshäusern, die unter dem Grünen-Stadtrat Jochen Biedermann in den vergangenen Jahren realisiert wurden, können nicht darüber hinwegtäuschen. Ebenso wenig wie die Verkehrswende-Projekte, die im als Hipsterkiez geltenden »Kreuzkölln« in Form zahlreicher Fahrradstraßen allmählich sichtbar werden - sie dürften von vielen vor allem als eins gelesen werden: Erst wird es schöner und dann wird es teurer.
Südlich des S-Bahnrings ist von der Neuköllner Hipness hingegen nichts zu spüren. In den Wahlkreisen der Ortsteile Rudow, Britz, Buckow, Gropiusstadt und Köllnische Heide verlaufen die sozialen Trennlinien - auch innerhalb von Großsiedlungen - noch schärfer. Ob die Bezirkslinken, von denen Ferat Kocak als Antifaschist und Opfer rechter Gewalt der Bekannteste sein dürfte, hier mit ihrem »Fünf-Punkte-Programm gegen Armut«, das Mindestsicherung und Sanktionsfreiheit beim Jobcenter vorsieht, auf offene Ohren stoßen, wird sich zeigen. Genauso, ob die Menschen, von denen sich nur wenige an demokratischen Abstimmungsprozessen überhaupt beteiligen dürfen, ihnen zuhören wollen. Den Haustürwahlkampf führt die Neuköllner Linke in jedem Fall offensiv, davon zeugen die omnipräsenten Flyer in den nördlichen Wahlkreisen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.