Junge Unternehmen oft ohne Tarif

Die Tarifbindung in ostdeutschen Bundesländern hängt vom Alter der Unternehmen ab

  • Sebastian Haak
  • Lesedauer: 4 Min.

In Thüringen arbeitet nur noch ein geringer Teil der Beschäftigten unter dem Schutz von Tarifverträgen. Einer neuen Studie zufolge hängt dies vor allem auch mit dem Alter der Unternehmen zusammen. Es gebe weniger eine Tarifflucht von schon seit Langem bestehenden Unternehmen, als dass in jungen Unternehmen erst gar keine Tarifverträge angewendet würden, sagte der Politikwissenschaftler Thorsten Schulten am Freitag in Erfurt. Nur in acht Prozent der Unternehmen, die nach 2010 in Thüringen gegründet wurden, habe 2019 ein Tarifvertrag gegolten. In Unternehmen, die vor 1990 gegründet wurden, sei das dagegen noch in 40 Prozent der Fälle so gewesen. Schulten hat im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Hessen-Thüringen eine Studie zur Anwendung von Tarifverträgen im Freistaat erstellt. Er leitet das Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung.

Schulten erklärte, auch wenn sich die Studie mit Tarifverträgen in Thüringen beschäftigte, ließen sich ihre Ergebnisse prinzipiell auf alle ostdeutschen Bundesländer übertragen. Zwar gebe es sehr wahrscheinlich einige Unterschiede in Details und exakten Zahlen. Im Großen und Ganzen sei die Situation im Freistaat aber exemplarisch für die Lage im Osten.

In Thüringen arbeiteten den Angaben nach 2019 nur noch 44 Prozent aller Beschäftigten in einem Unternehmen, in dem ein Tarifvertrag galt – trotz aller jahrelangen Versuche der Gewerkschaften und auch der rot-rot-grünen Landesregierung, die Tarifbindung im Land wieder zu erhöhen. Damit war die Tarifbindung in Thüringen vor zwei Jahren sogar noch geringer als im Schnitt aller ostdeutschen Bundesländer. Nur in Sachsen lag sie den Angaben der Studie nach noch niedriger. Dort waren 2019 nur 43 Prozent der Beschäftigten durch einen Tarifvertrag geschützt. In Mecklenburg-Vorpommern lag der Vergleichswert ebenfalls bei 44 Prozent, in Sachsen-Anhalt bei 45, in Berlin bei 47 und in Brandenburg bei 48 Prozent. Die meisten Beschäftigten mit Schutz durch Tarifverträge gab es damals in Hessen, Bremen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz sowie Niedersachsen. Zwischen 56 und 58 Prozent der Beschäftigten in diesen Ländern arbeiteten in tarifgebunden Unternehmen.

Schulten sagte, die geringe Tarifbindung in Thüringen habe ganz konkrete und messbare Effekte auf das Einkommen der Beschäftigten im Freistaat – und hänge natürlich auch mit der Größe der Unternehmen in den Region zusammen. In kleinen Unternehmen seien Tarifverträge viel weniger verbreitet als in größeren. Selbst wenn man die vorhandenen Unterschiede bei den Wirtschaftsstrukturen zwischen verschiedenen Regionen Deutschlands herausrechne, komme man aber noch immer zu dem Ergebnis, dass in tariflosen Unternehmen Thüringens etwa elf Prozent weniger Lohn gezahlt werde, als in Unternehmen, in denen ein Tarifvertrag gilt.

Der Vorsitzende des DGB Hessen-Thüringen, Michael Rudolph, nutzte die Zahlen um mehrere Forderungen an die Landes- und Bundespolitik zu richten. Unter anderem sprach er sich dafür aus, dass eine neue Bundesregierung das Verbot von sogenannten OT-Mitgliedschaften in Arbeitgeberverbänden zumindest prüfen müsse. Dabei sind Unternehmen Mitglied in Arbeitgeberverbänden, ohne die Tarifverträge bei sich anzuwenden, die die Verbände mit den Gewerkschaften ausgehandelt haben. Zudem müsse die Bundespolitik dafür sorgen, dass Tarifverträge in Zukunft leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden könnten. Dabei dürften die Arbeitgeber kein Vetorecht mehr haben.
Im Thüringer Landtag dürften die laufenden Diskussionen zu einer Reform des Vergabegesetzes nicht dazu führen, dass die bestehenden Regelungen verwässert würden, forderte Rudolph. Genau das wolle die CDU mit einer ihrer parlamentarischen Initiativen aber erreichen. Stattdessen müsse das Gesetz so verändert werden, dass es zukünftig auch für die Kommunen verpflichtend sei, Aufträge nur an solche Unternehmen zu vergeben, bei denen Tarifverträge angewendet werden. Das sei ein Beitrag, um die Tarifbindung im Freistaat wieder steigern zu können.

Obwohl die Studie zeigt, dass in jungen Unternehmen Tarifverträge im Osten kaum noch vorhanden sind, wollten weder Schulten noch Rudolph davon sprechen, diese Vereinbarungen zwischen Tarifpartnern seien Auslaufmodelle, die dem Zeitgeist nicht mehr entsprächen. Richtig sei allerdings, dass es lange gedauert habe, bis der Wert von Tarifverträgen wieder in großen Teilen der Gesellschaft erkannt worden sei. »Das Tal musste erst verdammt tief werden, damit man den Wert der tariflichen Regulierung sieht«, sagte Rudolph.

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