Potenzial verschenkt

Menschen mit Einwanderungsgeschichte scheinen keine relevante Zielgruppe im Wahlkampf zu sein, kritisiert Mutiara Berthold

  • Mutiara Berthold
  • Lesedauer: 4 Min.

Gut zwei Wochen vor der Bundestagswahl buhlen die Parteien um letzte Wähler*innenstimmen. Mensch sollte meinen, dass im Vorfeld Wähler*innen-Interessen umfassend identifiziert, Wahlprogramme danach ausgerichtet worden sind. Doch Fehlanzeige: Menschen mit Einwanderungsgeschichte scheinen keine relevante Zielgruppe im Wahlkampf zu sein. Schwarze Menschen und People of Color (BPoC) werden weder explizit adressiert, noch spielen ihre Belange im Wahlkampf eine zentrale Rolle. Gerade nach den Debatten um strukturellen Rassismus und die gesellschaftliche Benachteiligung von BPoC, ist es mehr als verwunderlich, dass sich keine*r der Spitzenkandidat*innen das Projekt einer progressiven, diversitätsorientierten Zukunft auf die Fahnen schreibt.

Zur Erinnerung: Deutschland ist ein Einwanderungsland, rund jede*r Vierte hat einen sogenannten Migrationshintergrund. Hinzu kommt: Weit mehr Menschen sind von rassistischer Diskriminierung betroffen, obwohl sie bereits seit Generationen Teil der Gesellschaft sind und statistisch gesehen gar keinen Migrationshintergrund haben.

Angesichts immenser Herausforderungen im Zuge der Pandemie, des Klimawandels und der politischen Lage in vielen Regionen der Erde, die weltweit zur Flucht zwingen, wird Migration weiterhin ein höchst relevantes Thema bleiben – auch, weil sich nur durch sie dem demografischen Wandel und Fachkräftemangel in Deutschland begegnen lässt.
Viel zu oft wird aber übersehen, dass Flucht nur einer von vielen Migrationsgründen und unsere Gesellschaft längst multiplural ist. Wo bleibt also der Entwurf für eine zukunftsfähige Migrationsgesellschaft?

Stattdessen wird mit beängstigender Nachsicht gegenüber demokratiefeindlichen und rassistischen Einstellungen nach Stimmen am rechten Rand gefischt. Wenn es dabei wirklich nur um den Stimmengewinn geht: Warum verschenken Parteien dann das Potenzial der vielen BPoC-Wähler*innen?

Keine Partei hat den Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus zu ihrem Hauptthema gemacht, obwohl Migration und die Aushandlung unseres Zusammenlebens als Migrationsgesellschaft eine der drängendsten Aufgaben unserer Zeit ist und bleiben wird. Die mangelnde Repräsentation von BPoC im Politikbetrieb macht dies nicht besser.
Auch thematisch müssen keine neuen Fässer geöffnet werden. Vielmehr ist es nötig, endlich Verschränkungen zu erkennen – beispielsweise die zwischen Migrationsgeschichte und einem niedrigen sozioökonomischem Status. Aber selbst SPD und Die Linke, die sich für Arbeiter*innenrechte einsetzen wollen, machen die Diversität der Arbeiter*innen und die damit verbundenen Bedarfe nicht zum Thema.

Mutiara Berthold ist Referentin beim postmigrantischen Netzwerk "neue deutsche organisationen" (ndo).
Mutiara Berthold ist Referentin beim postmigrantischen Netzwerk "neue deutsche organisationen" (ndo).

Nicht zuletzt nach den rechtsextremen Anschlägen von Halle und Hanau ist ein Paradigmenwechsel angebracht: Dringend nötig ist eine diskriminierungskritische, antirassistische Politik, die klar Stellung bezieht, Bürger*innen schützt und gerechte Teilhabe ermöglicht.

Es braucht einen politischen Strukturwandel auf allen Ebenen: In den Parteiprogrammen, im Personal und damit in den Möglichkeiten politischer und gesellschaftlicher Partizipation.

Es ist Zeit, endlich eine inklusive und gerechte Zukunft zu gestalten, in der die Teilhabe aller Menschen gewährleistet ist. Hierzu müssen Grundlagen geschaffen werden. Ein erster Schritt wäre ein Bundespartizipationsgesetz, dass die Teilhaberechte von BPoC gesetzlich verankert. Zusätzlich braucht es ein Bundesantidiskriminierungsgesetz sowie die Novellierung des bereits bestehenden Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), bei dem das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz ein Vorbild sein könnte, da es das AGG in vielen Punkten ergänzen kann. Diese Arbeit muss durch eine rassismuskritische und diversitätsorientierte Entwicklung aller beteiligten Apparate flankiert sein. Auch der 2020 gegründete »Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rassismus und Rechtsextremismus« muss bestehen bleiben und seine Arbeit fortführen.

Klar ist: Umfassende Veränderungen sind dringend nötig. Und um diese zu bewirken, braucht es eine Abkehr vom »Weiter so« und den Widerstand gegen den Status Quo.

Dafür machen sich beispielsweise die »neuen deutschen organisationen« (ndo) als Teil der postmigrantischen Bewegung gemeinsam mit vielen weiteren Migrant*innenorganisationen und NGOs schon seit Langem stark.

Am 10. September veranstaltet das postmigrantische Netzwerk einen digitalen Fachkongress, bei dem Expert*innen unter anderem die Wahlen sowie Teilhabe und Repräsentation von BPoCs gemeinsam diskutieren. Die Veranstaltung mit dem Titel »UPLOAD WIDERSTAND« wird ab 10:30 Uhr auf dem YouTube-Kanal der neuen deutschen organisationen live gestreamt. Hier geht es zum deutschen Livestream und hier zum englischen Livestream.

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