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»Wirtschaft ist Care!«

Lebenswichtige Sorgetätigkeiten werden gering geschätzt, schlecht bezahlt und finden unter harten Bedingungen statt

  • Sebastian Thieme
  • Lesedauer: 6 Min.

»Wirtschaft ist Care!«, lautet der Titel des 2019 entstandenen Animationsfilms, der mittlerweile mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde. Der Kurzfilm soll für das sensibilisieren, was vielen nun vor allem durch Corona spürbar geworden ist: Bezahlte und unbezahlte Sorgearbeit ist eine fundamentale Voraussetzung nicht nur für das eigene Leben, sondern vor allem auch für das Wirtschaftsleben. Zur Verdeutlichung: In ihrer Analyse aus dem Jahre 2016 zeigen Norbert Schwarz und Florian Schwahn vom Statistischen Bundesamt, dass das Volumen unbezahlter Arbeit von 1992 bis 2013 abnahm, aber jeweils immer noch deutlich höher lag als das Volumen bezahlter Arbeit im gleichen Zeitraum. Dem volkswirtschaftlichen Aggregat der Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit steht also ein weitaus höheres Aggregat unbezahlter Arbeitstätigkeiten gegenüber.

Diese unbezahlten (Haushalts-)Tätigkeiten stellen nun aber die Voraussetzung für marktwirtschaftliche Betätigungen dar, weil sie marktwirtschaftlich verwertbare Arbeitskraft »produzieren« und erhalten. Das wirft die Frage auf, warum diese Sorgetätigkeiten in »der« Ökonomik – wenn überhaupt – eine untergeordnete Rolle spielen. Und in der Pluralen Ökonomik? Dort taucht das Thema zwar auf, so zum Beispiel bei Ulrike Knobloch – Professorin für Ökonomie und Gender im Fach Wirtschaft und Ethik an der Universität Vechta – in ihrem Beitrag zum »Zukunftsfähigen Vorsorgen« (Makronom). Allerdings sind Professorinnen und Professoren für Plurale Ökonomik bislang nicht durch eine entsprechende Expertise aufgefallen.

Es darf daher nicht verwundern, wenn volkswirtschaftliche Lehrbücher wenig bis gar nicht darauf eingehen. Eine löbliche Ausnahme dazu bietet das alternative Lehrbuch »Mikroökonomik. Eine Einführung aus sozial-ökologischer Perspektive« von Adelheid Biesecker und Stephan Kesting. Dort wird unter anderem die »Versorgungsökonomie« unterschieden und von einer Marktökonomie abgegrenzt. Allerdings ist das Buch bereits 2003 geschrieben worden.

Neben der unbezahlten Sorgearbeit ist durch Corona vor allem auch die professionalisierte Sorgearbeit – also Kinderbetreuung, Pflege usw. – in das Blickfeld gerückt. Insbesondere Schule und Kinderbetreuung wurden als »systemrelevant« ausgewiesen. Dabei bezog sich »Systemrelevanz« jedoch auf den bestehenden Wirtschaftsstil: Kinderbetreuung und Schule waren vor allem deshalb von Interesse, weil durch Corona bedingt die Arbeitskräfte auf einmal anderweitig gebunden waren und den Unternehmen nicht mehr so frei zur Verfügung standen. Zwar wurde zu Recht die Doppelbelastung der abhängig Beschäftigten durch Lohnarbeit und Heimarbeit – hier insbesondere seitens der Frauen – problematisiert. Doch wer dahinter Sensibilität für soziale Fragen vermutet, könnte sich auf dem Holzweg befinden.

Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass professionelle und unbezahlte Sorgearbeiten die Voraussetzung jeglichen Wirtschaftens sind. Es ist geradezu banal: Die von den Unternehmen gewünschten Arbeitskräfte kommen schließlich nicht fertig via Paketdienst in die Werkhalle, sondern müssen geboren, ernährt, gewaschen, gebildet usw. werden. Und ja, nach dem abgeleisteten Dienst in abhängiger Beschäftigung wird die marktwirtschaftliche Arbeitskraft »reproduziert«, damit die Unternehmen am nächsten Morgen weiter »am Wettbewerb« teilnehmen können. Ein Teil dieser Sorgetätigkeit ist unbezahlte (Haus-)Arbeit, ein anderer Teil wird durch Sorgetätigkeiten im Rahmen öffentlicher Daseinsvorsorge unterstützt und geleistet.

Diese lebenswichtigen Sorgetätigkeiten sind mit Geringschätzung konfrontiert, die sich in niedrigen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen niederschlägt. Corona hat dies im Gesundheitsbereich, aber auch in den Bereichen der Kinderbetreuung und Schulbildung spürbar werden lassen. Allerdings sitzt das Problem tiefer, als die Empörung über niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen zunächst suggeriert: Es geht im Kern um ein anderes Verständnis von und einen anderen Umgang mit wirtschaftlicher Produktivität. Denn diese Sorgetätigkeiten stehen als Dienstleistungen vor dem Problem, dass sie sich nicht ohne Weiteres »rationalisieren« lassen. Im Gegenteil: Die Tätigkeiten werden in aller Regel gleich bleiben; es sind also keine Produktivitätsfortschritte wie in der industriellen Fertigung zu erwarten. Wenn die Löhne bzw. Gehälter für diese Sorgetätigkeiten dann steigen, entsteht gemäß gängiger Wirtschaftslehre eine Diskrepanz zwischen Kosten (Löhnen) und Ertrag bzw. Output (sogenannte baumolsche Kostenkrankheit).

Doch warum sollte lebensnotwendige professionalisierte Sorgetätigkeit überhaupt an der Arbeitsproduktivität gemessen werden? Genau in dieser Frage liegt der wirtschaftliche und wirtschaftstheoretische Kern des Problems: Denn in einer Welt, in der sich die Angemessenheit der Lohnhöhe an der messbaren Leistung orientieren soll und marktwirtschaftlicher Wettbewerb zur zentralen wirtschaftlichen Organisationsform wird, ist die (marktwirtschaftliche) Geringschätzung derartig niedrig produktiver Tätigkeiten konsequent. Es ist konsequent, dort Personalkosten zu senken, mit den bekannten Folgen, dass z. B. auch die Qualität der Dienstleistungen sinkt und sich die Arbeitsbedingungen verschlechtern.

Corona hat am Beispiel des Gesundheitswesens eindrücklich gezeigt, dass die marktwirtschaftliche Organisation eher Schönwetter-Situationen im Blick hat, um der Gewinne willen auf Oberkante Unterlippe genäht ist, aber während Schlechtwetter sprichwörtlich im Regen steht. Die Ironie im Reden über die »Systemrelevanz« liegt deshalb in der damit sicher unbeabsichtigt aufgeworfenen »Systemfrage«. Das »Prinzip Markt« scheint insbesondere in den Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge deutlich infrage gestellt zu sein, ebenso wie das bislang als selbstverständlich hingenommene »Marktwirtschaften« in Bezug auf unbezahlte Sorgetätigkeiten.

»Wirtschaft ist Care« sollte nämlich nicht dahingehend falsch verstanden werden, dass auch die private und unbezahlte Sorgearbeit in marktwirtschaftliche Werte gesetzt werden muss. Es geht, wie Teresa Bücker in ihrem Essay »Zeit, die es braucht. Care-Politik als Zeit-Politik« schreibt, um eine andere Kultur, die der privaten wie der professionalisierten Sorgearbeit die Zeit gibt, die es braucht. Mit anderen Worten: Es braucht (zeitliche) Schutzräume dafür, Sorgearbeit angemessen leisten zu können. Dazu verweist Bücker darauf, dass Arbeitsschutz neu zu denken wäre mit Blick auf (maximale) Lohnarbeitszeit und Erholung. Ein wichtiger Punkt dabei ist eine bislang sehr verzerrte Vorstellung über das Verhältnis von Lohnerwerbszeit und Zeit für Sorgetätigkeiten. Es »müsste anerkannt werden«, schreibt Bücker, »dass der zeitliche Aufwand von privater Care-Arbeit es schon jetzt erfordert, den zeitlichen Umfang von Erwerbsarbeit so neu zu verteilen, dass eine Vollzeiterwerbstätigkeit deutlich weniger als 40 Stunden umfasst.« Im Grunde bedeutet dies, dass bezahlte Arbeit bislang durch unbezahlte Arbeit subventioniert wurde. Ob, wie Bücker das andeutet, deshalb die unbezahlte Arbeit beziffert werden muss, darüber lässt sich streiten. Weniger strittig scheint die politische Stoßrichtung zu sein, die auf die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung bei angemessenem Lohnausgleich zusteuert. Damit ist »die Systemfrage« gestellt.

Wie sich auch heterodoxe Modellökonomen (Keynesianer) dazu verhalten, Löhne anders als nach dem bislang dominanten marktwirtschaftlichen Produktivitätsparadigma zu zahlen, bleibt abzuwarten. Lösungen für eine gesellschaftliche Transformation hin zu einem Wirtschaften, das Sorgearbeit tatsächlich als fundamentale Voraussetzung des Wirtschaftens begreift und angemessen wertschätzt, sind aber vermutlich aus anderen Teilen der Pluralen Ökonomik oder aus anderen Disziplinen zu erwarten.

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