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Vorfahrt für die Avocados
In Chile graben Plantagenbesitzer Anwohnern das Trinkwasser
In El Bronce, einer kleinen Ortschaft zwischen den Hängen der Anden, hat sich die ganze Gemeinschaft versammelt. Der Bürgermeister vom Hauptort ist da, es sprechen Umweltaktivist*innen und die gewählte Abgeordnete für den Verfassungskonvent, Carolina Vilches. Der Verfassungskonvent hat die Aufgabe, bis Mitte 2022 eine neue Magna Charta auszuarbeiten, die an die Stelle der Verfassung von 1980 aus der Pinochet-Diktatur treten soll.
Es geht ums Wasser, nach langen Jahren der Arbeit soll die Ansiedlung endlich ein lokales Wassernetz bekommen. Von einem zentralen Tank aus soll das Wasser in die rund 20 Häuser fließen. Das Wasser wird von einem anderen Ort herbeigefahren, denn hier ist es seit Jahren viel zu trocken und die vorhandenen Rinnsale sind durch die Minenaktivitäten vergiftet.
Seit knapp einem Jahrzehnt herrscht Trockenheit in Chile. Die Niederschläge erreichen jedes Jahr neue historische Tiefstwerte. Anfang August bezifferten Expert*innen, dass in und um Santiago gegenüber dem Jahresdurchschnitt derzeit ein Regendefizit von 86 Prozent herrsche. Hügel, die eigentlich im Winter aufgrund des Regens grün werden, sind fast so trocken und gelb wie im Sommer.
Stauseen, die Wasser für die Bevölkerung und Landwirtschaft speichern, sind maximal bis zur Hälfte gefüllt. Grund genug, dass das private Wasserunternehmen für Santiago davor warnt, im Sommer für die Hauptstadt das Wasser rationieren zu müssen.
Aufgrund der kritischen Situation kündigte der Präsident Sebastián Piñera Maßnahmen gegen Wasserverschwendung an. Er meint damit, »beispielsweise das Gießen des Gartens über den Tag, das Bewässern von öffentlichen Parks, das Waschen von Autos oder das öffnen von Hydranten«. Der Regionalgouverneur von Valparaíso, Rodrigo Mundaca, bezeichnete die Aussagen von Piñera als »absurd«. Denn laut offiziellen Zahlen aus dem Jahr 2015 macht die Landwirtschaft 72 Prozent des jährlichen Wasserverbrauchs aus. Gefolgt wird sie von elf Prozent für das Trinkwasser, knapp sieben Prozent für die Industrie und jeweils um die vier Prozent für Energieerzeugung und Minenaktivitäten.
Expert*innen sind sich einig, dass neben dem Klimawandel ein entscheidender Faktor das schlechte Management der Wasservorräte ist. Die Privatisierung des Zugangs zu Wasser während der Militärdiktatur von 1973 bis 1990 habe dem Staat jegliche Kontrollfunktion genommen. Über Jahre seien bestehende Wasserreservate zügellos ausgeplündert worden. Diese Situation und ein fehlender Schutz von natürlichen Reservoirs, wie Moore und Wälder, hätten die Wasserknappheit enorm verschlimmert. mas
Die Gemeinschaft wirkt harmonisch. Man lobt die gemeinsame Arbeit und öffentliche Angestellte verteilen Flugblätter für den Sommer, der auf der Südhalbkugel im Januar seinen Höhepunkt erreichen wird. Es soll der trockenste Sommer seit Beginn der Aufzeichnungen werden, und man möchte sich darauf vorbereiten, damit alle ihren Mindestbedarf an Wasser decken können.
Doch der Schein trügt. Seit Jahren tobt in der Provinz von Petorca, rund zwei Autostunden nördlich der Regionalhauptstadt Valparaíso, ein Kampf um das vorhandene Wasser, mit Barrikaden, Morddrohungen und Militär. Die Bevölkerung, Avocadoplantagenbesitzer*innen und Minenunternehmen streiten sich um die zurückgehenden Reservoire. Die Aktivist*innen vor Ort zeigen seit Jahren auf, dass hier das Menschenrecht auf Zugang zu sauberem Trinkwasser verletzt wird. Ihre politische Bewegung heißt Movimiento del Agua y los Territorios (Modatima). Sie ist im Aufwind, stellt seit Ende Juni den Regionalgouverneur, hat mehrere Abgeordnete im Verfassungskonvent und will nun auch in Kooperation mit dem linken Parteienbündnis Apruebo Dignidad (Ich stimme der Würde zu) ins Parlament.
Die Reise beginnt in der Kleinstadt Cabildo. Riesige Tanklastwagen fahren durch die enge, staubige Hauptstraße, sie sind dreckig. Langsame Autos werden von den Monstern auf Rädern wütend angehupt. Es entstehen Streitereien, und der Verkehr steht über Minuten still. Die Stimmung ist aufgeladen.
In einer Ortschaft, gleich neben Cabildo, leitet Verónica Vilches eine Asociación de Agua Potable Rural (APR), eine selbstverwaltete Trinkwassergenossenschaft für ländliche Gebiete. Sie versorgt um die Tausend Menschen mit Wasser. Die ältere Frau hat das Haar straff nach hinten gekämmt, sie wirkt energisch und ist wütend. »20 Liter habe ich hier pro Tag und Person zur Verfügung«, sagt sie aufgebracht, alles per Tanklastwagen geliefert. Deutlich weniger, als ihr per Gesetz zusteht. Erst im März dieses Jahres bestätigten Gerichte, dass der Staat eigentlich 100 Liter pro Tag und Person zur Verfügung stellen muss. Sie zeigt auf eine Avocadoplantage gleich nebenan: »Die da verbrauchen mehrere Hundert Liter pro Baum am Tag.« Riesige Wasserbecken speichern das kostbare Gut inmitten der Anlagen, während rundherum an den Hängen aufgrund der Trockenheit die Bäume absterben.
Die Plantagenbesitzer*innen haben sich mit der Wasserprivatisierung während der Militärdiktatur Förderrechte gesichert. Während das Grundwasser immer mehr schwindet, bauen die Plantagenbesitzer*innen immer tiefere Brunnen. Solche Anlagen anzulegen, ist für die Bevölkerung nicht möglich. Die Lösung sind Tanklastwagen, Dutzende am Tag, die die APRs und den privaten Wasserversorger Esval beliefern. Seit 2010 ist das nunmehr so.
Vilches meint, keiner würde wissen, woher das Wasser kommt. Im Jahr 2014 machten sie eine Wasserprobe, das Resultat zeigte, dass der Messwert an Fäkalien das Doppelte des Erlaubten betrug. Drei Jahre später veröffentlichte das Rechercheportal Ciper Zahlen, weil bekannt wurde, dass hinter den Tanklastwagen intransparente Finanzen und Unternehmen stehen. Getan hat sich seitdem nichts. Außer, dass im gleichen Jahr die Kriminalpolizei auftauchte, die Genossenschaft durchsuchte und Vilches des Wasserraubs bezichtigte. Das Verfahren wurde nicht weitergeführt, doch die Botschaft für Vilches war klar: »Die zeigten mir mit ihren Waffen im Anschlag, auf welcher Seite sie stehen.« Seitdem erhält sie Morddrohungen, es gibt Einbrüche ohne Diebstahl und erst im Juli ging ihr Auto in Flammen auf. Der Grund liegt für die Abgeordnete auf der Hand: weil sie gegen die ungleiche Wasserverteilung und für das Menschenrecht auf Wasser kämpft. Deshalb ist sie Mitglied von Modatima.
Die Organisation besteht nunmehr seit elf Jahren in der Provinz von Petorca. Die Gründer*innen wurden von der ungleichen Verteilung von Wasser und der Verflechtung zwischen Politik und Avocadobaronen mobilisiert. Einer der größten Avocadoplantagenbesitzer, Edmundo Perez-Yoma, gehört bis heute der christdemokratischen Partei Chiles an. Modatima organisiert Demonstrationen, zeigt illegale Brunnen an, wendet sich an die Politik und internationale Organisationen.
Einer der bekanntesten Vertreter der Bewegung, Rodrigo Mundaca, bekam im Jahr 2019 den Menschenrechtspreis der Stadt Nürnberg überreicht. Im Mai dieses Jahres wurde er zum ersten Gouverneur der Region gewählt. Ein neuer Posten, der 2021 zum ersten Mal besetzt wurde. Davor wurden alle Regionen direkt von der Zentralregierung verwaltet. Sich zur Wahl zu stellen, war für ihn eine schwere Entscheidung. Gegenüber »nd« erzählt er, dass sie keinen anderen Weg mehr sahen, die Situation zu verändern. Im Amt sieht sich der Regionalgouverneur mit gebundenen Händen. Die Reform zur Dezentralisierung war halbherzig, neben dem Regionalgouverneur besteht immer noch die Position des regionalen Präsidialvertreters, der über mehr Einfluss und Personal verfügt.
Nun will Modatima auch ins Parlament und nimmt an den kommenden Wahlen im November teil. Eine der Kandidat*innen ist auch Lorena Donaire. Die Aktivistin führt uns zum zweiten Punkt der Reise. Auf der Fahrt erzählt sie, wie sie zur Aktivistin wurde. Sie war Lehrerin in einer Grundschule, die in Chile bis ins achte Schuljahr geht. Mit Beginn des Wassermangels hatte die Einrichtung nur noch stundenweise Wasser. Donaire meint, das bedeutete in der Praxis, dass das Bad nur von acht bis zehn Uhr offen war, danach war es für den Rest des Tages gesperrt.
Gerade Mädchen mussten unter der Situation sehr leiden. »Mehrere Schülerinnen bekamen Harnleiterentzündung, weil sie sich das Pinkeln verkniffen und nicht an einen Baum pinkeln wollten. Während der Periode gingen sie nicht in die Schule.« Das war vor zehn Jahren, lange waren die Schulen aufgrund der Pandemie geschlossen und konnten jetzt wegen Wassermangels nicht wieder geöffnet werden.
Auch Donaire lebt unter ständiger Beobachtung. Während der Revolte von 2019, als Millionen von Chilen*innen gegen das neoliberale Wirtschaftssystem und die rechte Regierung von Sebastián Piñera auf die Straßen gingen, wurde ihr Haus vom Militär umzingelt, ein Helikopter kreiste über ihrem Dach, und wenig später stellte sich heraus, dass die Polizei ein Nachbarhaus zwecks Überwachung angemietet hatte.
Donaire ist im Wahlkampf. Das bedeutet für sie, verschiedene Ortschaften zu besuchen, die und deren Projekte von Unternehmen bedroht sind. In Peñablanca, einer kleinen Ansiedlung unweit von Cabildo, ist die Stimmung aufgebracht. Die Bewohner*innen empfangen die Kandidatin warmherzig. Ein Absatzbecken mit Staudamm oberhalb des Tals bedroht sie. Vor gut zehn Jahren baute dort das chilenische Minenunternehmen Las Cenizas das Becken für Minenabfälle, das durch neue Bauweisen sicherer sein sollte als ältere. Aber nach zehn Jahren in Betrieb hat sich das kleine Tal unweit des Dorfes doch mit giftigen Resten aus der Kupfermine gefüllt.
In Peñablanca werden aus dem Gestein der Berge verschiedene Metalle gewonnen, vor allem Kupfer und als Nebenprodukt Gold. Das Gestein wird zermahlen und dank chemischer Prozesse von den Mineralien getrennt. Während die Mineralien abgesondert werden, bleibt ein giftiger Schlamm, der in Halden gelagert wird. Allein im Gemeindegebiet von Cabildo gibt es über zehn solcher Dämme.
Nach zehn Jahren Laufzeit will das Unternehmen den Damm von Peñablanca weiter füllen, doch die Bewohner*innen sind damit nicht einverstanden. Vor kurzem ist nämlich in einer Nachbargemeinde ein Damm ausgelaufen. Zum Glück ist niemandem etwas passiert. Doch hier ist der Damm direkt über den Häusern. Eine ältere Dame erzählt: »Jedes Mal, wenn ich in der Nacht etwas höre, habe ich Angst, dass der Damm bricht.«
Die Bewohner*innen fürchten um ihr Leben, ihr Wasser und die Luftqualität. Erst kürzlich haben sie einen eigenen Brunnen bekommen, der sie mit frischem Trinkwasser versorgt. Aber sie sind besorgt, dass Schadstoffe in das Trinkwasser kommen. Zugleich haben sie Angst, dass der Staub vom Damm mit Chemikalien vergiftet ist. Derweil fehlt es an Messanlagen, die die Ängste bestätigen oder entkräften könnten.
Von der Mine heißt es, dass die Wasserqualität nicht gefährdet sei und der Damm dank der neuen Technik nicht brechen könne. Als Reaktion auf die Proteste haben sie aber trotzdem angeboten, einen Onlineworkshop für das Verhalten bei einem Dammbruch zu machen. Ein Hohn für die Bewohner*innen – damit werde doch bestätigt, dass eine Gefahr besteht.
Der Anwohner José Olmos nimmt uns mit auf den Damm. Er zeigt auf die Bäume, die unter grauem Schlamm begraben sind. »Die hat mein Vater gepflanzt.« Er ist traurig, wie sich sein Dorf verändert hat. Die nahen Täler werden von Plantagen oder Minen genutzt, der Fluss ist ausgetrocknet. Er meint: »Wenn das so weiter geht, dann ziehen wir hier weg. Wer will hier schon leben.«
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Zurück in El Bronce, der kleinen Häuseransiedlung, die bald ihr erstes Leitungswassersystem bekommt. Auch hinter dieser Aktion stehen Umweltaktivist*innen von Modatima. Unter anderem die 29-jährige Camila Donoso, die im Tal aufgewachsen ist und sich nach einem Soziologiestudium dazu entschieden hat, wieder zurückzukehren. Das war vor sechs Jahren. Damals begann sie, den APRs in den entlegenen Dörfern zu helfen, ihre Infrastruktur aufzubauen oder zu verbessern. Es war auch der Anfang ihres Aktivismus. Er richtet sich gegen Minenunternehmen und Plantagenbesitzer*innen, die sich aufführten, als ob ihnen das Tal gehöre. »Sie denken, sie können hier machen, was sie wollen«, meint Donoso. Wenn sich dann doch jemand gegen sie wehrt, reagieren sie mit Gewalt und anderen Repressalien. »Als wir uns eines der ersten Male gegen den illegalen Bau einer Pumpe mitten im ausgetrockneten Flussbett wehrten und die Straße versperrten, sprach der Plantagenbesitzer die Menschen beim Namen an und drohte, ihre Familienangehörigen zu entlassen. Nach ein paar Tagen machte er seine Drohung wahr.«
In El Bronce, weit weg von der Hauptstadt Santiago, bestehen feudale Manieren aus dem Kolonialismus fort. »Früher sind alle, die damit nicht einverstanden waren, in die Stadt gegangen«, meint Donoso. »Heute kehren wir zurück und wollen die Situation verändern. Wir fühlen uns unseren Heimatorten verpflichtet.«
Donoso ist die engste Beraterin der Verfassungsabgeordneten Carolina Vilches. Von hier aus wollen sie mehr Demokratie und eine Basis dafür schaffen, dass künftig das Wasser gerecht verteilt und die Natur geschützt wird. »Im Angesicht der Klimakrise müssen wir die Strukturen verändern«, meint die Aktivistin. Im Tal heißt das, den Verbrauch von Wasser zu senken, vorhandene Bestände dazu zu verwenden, die Berge wieder aufzuforsten und das Natursystem zu schützen.
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