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Der Teddybärmann
Spaß und Verantwortung: Olga Hohmann macht sich Gedanken über ihre sieben verschiedenen Jobs
In letzter Zeit fühle ich mich wie ein Fahrradkurier - und in meinem aus Lastwagenplane bestehenden, wasserabweisenden Rucksack transportiere ich mein Leben. Der Grund: Ich habe momentan ungefähr sieben verschiedene Jobs in etwa fünf verschiedenen Berliner Bezirken. Auf meinem schnellen, leuchtend kobaltblauen Rennrad sitzend, den aggressiven Fahrstil der »echten« Fahrradkuriere imitierend, kommt es mir fast so vor, als ob ich unter dem Verkehr hindurchtauchen würde, statt an ihm teilzunehmen. Dieses Gefühl wird auch dadurch unterstützt, dass ich die Straßengeräusche nur gedämpft höre, denn durch meine Kopfhörer läuft dabei immer ein Lied in Dauerschleife - meistens ein kitschiges Liebeslied oder ein Popsong. Bei diesen wilden Fahrradfahrten begegnen mir, vielleicht heraufbeschworen durch die sich mantraartig wiederholenden Love Songs und die in ihrem Rhythmus vollzogene Tretbewegung, häufig Geister aus der Vergangenheit, das heißt: verlorene Lieben oder Freundschaften.
Die verschiedenen Jobs, die mich auf diese sentimentalen Reisen durch meine Stadt führen, reichen von Blumengießen für einen alten Professor bis zum Kellnern im Sternerestaurant - dazwischen sind auch ein paar glamouröser aussehende Aktivitäten, die meistens unbezahlt, dafür aber auf Instagram gut dokumentiert sind. Glamourös hatte ich mir die Arbeit im Sternerestaurant anfangs allerdings auch vorgestellt - allein schon deshalb, weil ich bei Vertragsunterzeichnung herausfand, dass mein Titel dort offiziell nicht »Kellnerin«, sondern »Chef de Rang« ist. Bei jener Vertragsunterzeichnung bemerkte ich auch, dass ich noch immer Kirchensteuern zahle. Obwohl eine meiner Tätigkeiten auch darin besteht, die Steuererklärung für jenen Professor mit den Blumentöpfen zu machen, vernachlässige ich meine eigene Steuererklärung seit Jahren. Je unübersichtlicher die Einnahmequellen, desto komplizierter und zeitaufwendiger auch ihre Buchhaltung.
Schon an meinem ersten Tag in dem Restaurant merkte ich, dass es nicht so glamourös war wie gedacht. Das Angenehmste war, nach der Schicht im Restaurant beim Besteckpolieren noch ein Kreuzberger Pale Ale zu trinken. Dabei lief »Eclipse of the Heart«, ein Song von Bonnie Tyler, den ich zu Unrecht komplett vergessen hatte - die Dramaturgie des Songs ist unübertroffen. Auch einzelne Lines fielen mir wieder auf und ein: »Once upon a time I was falling in love, now I’m only falling apart«. Das Lied wurde direkt mein neuer Mantrasong für meine Tauchtouren durch die Stadt. Ich identifizierte mich mit der verzweifelt-zerrissenen Stimmung des Liedes. Bonnie Tyler säuselt abwechselnd sanft und schreit dann wieder kratzig: »Tomorrow’s gonna start tonight«. Die (mich momentan ghostenden) Geister aus der Vergangenheit, in die ich mich once upon a time verliebt hatte, suchten mich in meinen auseinanderdriftenden Lebens- und Arbeitsumständen irgendwie besonders stark heim.
So stand ich kürzlich laut heulend an der Kasse beim Kreuzberger Kunstbedarf Modulor, wo ich die Utensilien besorgte, die ich für die Steuererklärung meines Professors brauchte. Ein ziemlich süßer Mann in meinem Alter nahm mich in den Arm. Er trug einen Hoodie, auf dem vorne ein Teddybär abgebildet war - seltsamerweise sah das richtig gut aus. Sein Teddy-Pulli roch frisch gewaschen und war ganz weich und so ließ ich mein nasses Gesicht intuitiv noch ein bisschen tiefer hineinsinken und heulte, dank des unerwarteten Trostes, noch lauter auf. Der Mann ließ mich los, bezahlte und verließ den Laden. Ich setzte mich auf mein Rennrad, hörte Bonnie Tyler und dachte an den süßen Teddybärmann und daran, dass er wahrscheinlich die Liebe meines Lebens ist.
In der Wohnung meines alten Professors sah ich, dass eine der Pflanzen in meiner Obhut gestorben war - ausgerechnet der Kaktus. Als Entschuldigung kaufte ich eine Plastikpflanze, die mit dem Kopf wackeln kann, wenn Sonne auf ihre kleine Solarzelle fällt. Ich entschied mich, auf dem Weg vom Blumengießen zum Restaurant, erst einmal nicht aus der Kirche auszutreten - denn wenn ich weiterhin so halsbrecherisch Fahrrad fahre, brauche ich den Segen des lieben Gottes noch für eine Weile.
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