Diesseits der Union

Was spricht für eine rot-grün-rote Bundesregierung?

Lange Zeit schien der Bundestagswahlkampf eine langweilige Angelegenheit zu werden. Doch seit einigen Wochen, seit die SPD sich in den Umfragen nach vorn geschoben hat, ist Leben in der Bude. Inzwischen ist nicht nur ein Wahlsieger Olaf Scholz, sondern auch eine Mehrheit von SPD, Grünen und Linkspartei durchaus realistisch. Noch ist nichts sicher, noch kann sich angesichts knapper Mehrheiten viel ändern, noch gibt es genau deshalb jede Menge Mehrheitsvarianten. Aber keine Konstellation ist so umkämpft wie Rot-Grün-Rot.

Dass es für viele keine Herzensangelegenheit ist, wird immer deutlicher, je näher der Wahltag rückt. SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz hantiert mit offensichtlicher Skepsis, die Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock hat eine Koalition mit der Linken wegen deren vermeintlicher Regierungsunfähigkeit faktisch abgelehnt. Dennoch wird diese Option – ein entsprechendes Wahlergebnis vorausgesetzt – auch nach dem 26. September zunächst auf dem Tisch liegen. Denn zumindest die SPD wird versuchen, das bestmögliche Verhandlungsergebnis herauszuholen und deshalb zunächst alle Pfeile im Köcher behalten. Zumal es bei ihr Beschlusslage ist, Gespräche mit der Linken nicht von vornherein auszuschließen.

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, der eine rot-rot-grüne Regierung führt, hat sich schon als linker Vermittler in Berlin angeboten. Und überhaupt: Erfahrungsgemäß werden nach der Wahl die Karten neu gemischt. Bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 1994 lehnte der SPD-Spitzenkandidat Reinhard Höppner noch am Wahlabend jegliche Zusammenarbeit mit der PDS brüsk ab – am Ende gab es die erste Regierungskooperation, ein von der PDS toleriertes SPD-Grünen-Kabinett.

Kompliziert, aber machbar

Wie man hört, bereiten derzeit Strategen in allen drei Parteien neben anderem auch mögliche Verhandlungen für ein Mitte-links-Bündnis vor. Man muss diesen Begriff nicht auf die Goldwaage legen. Von links fragt mancher skeptisch, was denn an Grünen oder SPD links sein soll. Auf der anderen Seite darf sich der Historiker Hubertus Knabe in der «Bild»-Zeitung darüber aufregen, dass Rot-Grün-Rot als Mitte-links bezeichnet wird – dabei wisse doch «jeder, der deren Programme gelesen hat», dass dies «einen radikalen Kurswechsel für Deutschland bedeutet».

Solche Abwehrreflexe haben auch damit zu tun, dass es sich auf Bundesebene tatsächlich um Neuland handelt. Noch nie gab es Sondierungen, geschweige denn Koalitionsverhandlungen zu R2G im Bund. Dabei brachten die Bundestagswahlen 2005 und 2013 Mehrheiten dafür. 2005 wäre ein solches Bündnis nicht denkbar gewesen: Die Linke existierte noch nicht als Partei, sondern vorerst in Gestalt einer gemeinsamen Wahlliste von Linkspartei.PDS und WASG, auf der auch einige namhafte Ex-Sozialdemokraten standen. Die Verletzungen in der SPD waren noch zu frisch, die Wut auf den abtrünnigen Ex-Parteichef Oskar Lafontaine war noch zu groß. Und in der sich herausbildenden Linken ist wohl kaum jemand auf die Idee gekommen, mit den Hartz-IV-Parteien SPD und Grüne zu koalieren.

Das war 2013 schon anders. Die Stimmung hatte sich verändert, die Wunden der Sozialdemokratie waren zwar noch nicht verheilt, aber nicht mehr frisch aufgerissen. Dennoch warben seinerzeit in allen drei Parteien «nur vereinzelte Stimmen für eine solche Koalition», wie die linke Sozialdemokratin Hilde Mattheis jüngst in einem Beitrag für das Magazin «Jacobin» schrieb. «Um jegliche Diskussion im Keim zu ersticken, wurde argumentiert, es gebe zwar eine parlamentarische Mehrheit für Rot-Rot-Grün, aber keine gesellschaftliche.» Der Beweis dafür, so Mattheis, sei «bis heute nicht erbracht».

Auch acht Jahre später, im Wahljahr 2021, sind Stimmen in der Minderheit, die sich vehement für Rot-Grün-Rot einsetzen– oder wie es neuerdings heißt, für eine progressives Reformbündnis. Dieser Umstand rief im Sommer das Institut Solidarische Moderne, in dem sich Menschen aus SPD, Linkspartei und Grünen sowie Gewerkschafter und Wissenschaftler Gedanken über eine Reformalternative machen, auf den Plan. Nach 16 Jahren CDU-geführter Regierungen gebe es «nur wenige linke Kräfte, die für ein alternatives R2G-Bündnis werben», konstatierte das Institut. Das sei «ein gravierendes Problem für die progressive Zivilgesellschaft, für Bewegungen und die gesellschaftliche Linke».

Am lautesten sind die Rufe nach Rot-Grün-Rot in der Linken. Deren Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow rief schon bei ihrer Wahl im Februar ein progressive Bundesregierung als Ziel aus. Auf nd-Anfrage erklärt Katina Schubert, Berliner Landesvorsitzende und stellvertretende Bundesvorsitzende der Linken, dass die Bereitschaft, eine solche Regierung zu bilden, in der Linkspartei «deutlich größer ist als in der Vergangenheit». Schubert gehört zu den zentralen Akteuren der rot-rot-grünen Landesregierung in Berlin und «kann deshalb bezeugen, dass ein solches Regierungsbündnis zwar kompliziert, aber machbar ist». Voraussetzung sei, dass sich alle drei Parteien «auf ein gemeinsames Regierungsprogramm verständigen können, das auf Augenhöhe verhandelt und vereinbart wird und das jeder Partei die Luft zum Atmen lässt».

Der Linke-Bundestagsabgeordnete Axel Troost, ein Aktivist des Instituts Solidarische Moderne, verweist gegenüber dem «nd» auf eine «intensive und emotionale Diskussion über eine mögliche Regierungsbeteiligung der Linken in den letzten Jahren. Diese Debatte sei geführt »und ist beendet. Die Linke steht nicht nur theoretisch bereit«, so Troost, »wenn eine radikale, progressive Politik mit den potenziellen Koalitionspartnern möglich ist.« Im Institut Solidarische Moderne werde seit Jahren an der Frage gearbeitet, »wo die Gemeinsamkeiten zwischen den Parteien des progressiven Lagers liegen und wie Unterschiede überbrückt werden können«.

Sozialpolitische Gemeinsamkeiten

»Als Jusos streiten wir für ein progressives Bündnis und sind der festen Überzeugung, dass die Union endlich in die Opposition gehört«, erklärte Jessica Rosenthal, Vorsitzende der Jungsozialisten, auf nd-Anfrage. Rosenthal verweist darauf, dass »die Jugendorganisationen des linken Spektrums im regelmäßigen Austausch sind« und bei Projekten zusammenarbeiten. »Die gemeinsame Arbeit in Bündnissen gegen Rassismus, Faschismus und gegen rechts hat immer wieder gezeigt, wo unsere Gemeinsamkeiten liegen und dass wir gut zusammenarbeiten können.«

Rosenthals SPD-Genosse Ralf Stegner, erklärter Parteilinker und nach jahrzehntelanger landespolitischer Arbeit in Schleswig-Holstein auf dem Sprung in den Bundestag, wirbt nach eigenem Bekunden in seiner Partei »offensiv für das Wahlziel einer SPD-geführten progressiven Regierungskoalition diesseits der Union«. Allerdings ist er gleichzeitig skeptisch: Die Linke will nach seinem Eindruck »wohl eher in der Opposition bleiben und ist außenpolitisch wenig flexibel«, die Grünen wiederum seien »in der Führung eher auf dem bürgerlich-konservativen Kurs, als dass sie ein Linksbündnis wollten«, sagte er auf nd-Anfrage.

Was Rosenthal ähnlich sieht wie Stegner: Die Linke müsse sich in der Außenpolitik »programmatisch bewegen«. Ein Bekenntnis beispielsweise zur Nato verlangt sie allerdings nicht; dafür fordert sie von den Grünen klare Worte in Sachen Rot-Grün-Rot: Die Grünen hätten »die Türen in Richtung Union sehr weit aufgestoßen. Hier braucht es endlich ein Bekenntnis.« Das allerdings ist kaum zu haben; wohl nicht zufällig haben die für diesen Artikel angefragten Grünen-Politiker nicht geantwortet.

Welche wären die Themen, bei denen die drei Parteien Gemeinsamkeiten haben? Die Antworten darauf zielen vor allem auf den sozialpolitischen Bereich. Den sozial verträglichen ökologischen Umbau der Industriegesellschaft und einen solidarisch handelnden starken Sozialstaat nennt Ralf Stegner. Den Abbau von Armut und Ausgrenzung, Maßnahmen gegen den Mietenwahnsinn, wirksamen Klimaschutz, mehr Verteilungsgerechtigkeit nennt unter anderem die Linkenvizechefin Katina Schubert. Axel Troost zählt etwa die Wiedereinführung der Vermögensteuer, eine Vermögensabgabe zur Finanzierung der Corona-Ausgaben und ein »verteilungsgerechtes Steuersystem« auf. Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt, höherer Mindestlohn, ein Ende der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen, genossenschaftliche Modelle in der Energiewirtschaft, ökologischer Umbau des Wirtschaftssystems und ein Mietenstopp in angespannten Wohnlagen sind einige Stichworte von Jessica Rosenthal. »Das alles«, meint die Juso-Vorsitzende, »geht nicht mit einer inhaltlich völlig entkernten Union, die seit Jahren mit beiden Beinen auf der Bremse steht, wenn es um unsere Zukunft geht.«

Lauterbachs Umkehr

Mancher, der einmal für eine Regierung aus SPD, Grünen und Linken plädierte, denkt allerdings inzwischen anders. Karl Lauterbach beispielsweise, der Gesundheitsexperte der SPD, bestritt seine Kandidatur für den Parteivorsitz vor zwei Jahren unter anderem mit der Position, dass Rot-Rot-Grün »auf Landesebene wie auch im Bund ein Zukunftsmodell« sei. Die Linke sei »eine Partei geworden, die sich im parlamentarischen Verfahren als fair und gut informiert und hilfreich erwiesen hat«, sagte er seinerzeit. Deshalb solle man ein solches Bündnis nicht »von vornherein abschreiben.«

Das hört sich heute anders an. In einem Interview erklärte Lauterbach gerade erst, ein solches Bündnis »hätte keine Zukunft« und würde sich »wahrscheinlich nach kurzer Zeit auflösen«. »Wir kämen in der Außen-, Verteidigungs- und Innenpolitik, aber auch in der Bewältigung der Corona- und Klimakrise nicht voran und würden uns zerlegen.«
Das sehen viele Wähler offenbar nicht so rigoros. Laut dem jüngsten ZDF-Politbarometer bewegt sich die Beliebtheit der verschiedenen Koalitionsmodelle zwischen 37 Prozent (SPD, Grüne, FDP) und 27 Prozent (SPD, Grüne, Linke). Alles andere liegt dazwischen, keine Option erreicht auch nur annähernd 50 Prozent. Das gilt also auch für alle Konstellationen unter Beteiligung von CDU und CSU. Die SPD-Linke Hilde Mattheis meinte jüngst auf Twitter: »Ja, ich halte R2G für die größte und beste Chance für unser Land. Denn eine Bundesregierung unter Beteiligung der Union und/oder FDP wäre ein Vehikel mit viereckigen Rädern.«

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