Flucht vom Todesmarsch

Suzanne Maudet erzählt von einer Gruppe junger Frauen, die der SS entkommt

  • Lesedauer: 10 Min.

»Wir wollen leben und werden es wagen, weil wir dieses wunderbare, freie, abenteuerliche Leben zurückhaben wollen.« Dies schreibt unmittelbar nach Kriegsende Suzanne Maudet, eine Deportierte, der im April 1945 auf dem Todesmarsch zusammen mit acht Mitgefangenen die Flucht aus den Fängen der Nazis glückt. Zusammen sind sie neun Freundinnen, sechs aus Frankreich, zwei Holländerinnen und eine Spanierin, die im Konzentrationslager Ravensbrück gefangen waren. Im Frauenaußenlager Leipzig-Schönefeld des KZ Buchenwald mussten sie für den Rüstungskonzern HASAG Zwangsarbeit leisten und Panzerfäuste anfertigen. Bei der Räumung des Lagers fassen sie den Entschluss, zu fliehen und sich zu den amerikanischen Linien durchzuschlagen. Unterwegs begegnen sie Bauern und Dorfbewohnern, umherirrenden Soldaten und Kriegsgefangenen, stets mit dem Risiko, denunziert zu werden oder vom Geschützfeuer der letzten Artilleriegefechte zwischen sich auflösender Wehrmacht und vorrückenden Alliierten getroffen zu werden. Aber auch unerwartete Hilfe wird den flüchtenden Frauen zuteil. Nach acht abenteuerlichen Tagen stoßen sie endlich auf amerikanische Truppe. Das Überraschende dieser Geschichte ist ihr allen Gefahren trotzender Charme, der übermütige, schelmische Humor, der selbst ernstester Lage noch Situationskomik abzugewinnen vermag. Es ist die jugendliche, fast unbekümmerte Frische, die vor einem Hintergrund, der dramatischer kaum sein könnte, die Farbe dieses außergewöhnlichen Textes ausmacht, der beflügelt ist von euphorischer Vorfreude auf die Freiheit. 1945/46 verfasst, ist diese literarische Neuentdeckung ein kleines Juwel.

Die Autorin und ihre Übersetzerin

Suzanne Maudet, 1922-1994, engagierte sich in der Jugendherbergsbewegung Ligue française pour les auberges de jeunesse (LFAJ). Während der deutschen Besatzung war sie in Paris in der Résistance aktiv und wurde kurz nach ihrer Heirat am 22. März 1944 zusammen mit ihrem Mann René verhaftet und im Juni 1944 nach Deutschland deportiert.

Zunächst im KZ Ravensbrück inhaftiert, wurde sie schließlich in das Frauenaußenlager von Buchenwald in Leipzig-Schönefeld verschleppt, wo sie Zwangsarbeit für den Rüstungskonzern HASAG verrichten musste. Auf dem Todesmarsch nach der Evakuierung des Lagers gelang ihr im April 1945 mit acht Mitgefangenen die Flucht. Am 2. Mai 1945 kehrte sie nach Frankreich zurück.

Ingrid Scherf lebt in München, arbeitete als Buchhändlerin in der Basis Buchhandlung und als Kuratorin u.a. für eine Ausstellung über Kurt Eisner. Sie ist freie Autorin und Sachbuch-Übersetzerin. Für Assoziation A hat sie Bücher des international renommierten Stadtsoziologen Mike Davis übersetzt.

1. Tag Samstag, 14. April 1945, Leipzig-Schönefeld, zwei Uhr morgens.

Die tiefdunkle Nacht erfasst uns, noch halb benommen, hinter dem starken Scheinwerfer, der das Tor des Lagers ausleuchtet. Fünftausend Frauen sind, angesichts des Vormarsches der Amerikaner, in Fünferreihen von der SS auf die Straßen getrieben worden. Zinka klammert sich an meinen linken Arm; mein rechter Arm hängt wie eine Klette an Lon. Mena hängt sich bei Lon ein, Guillemette bei Mena. Hinter uns marschieren Christine, Jackie, Nicole und Josée und noch eine weitere Frau - wir haben alle vergessen, wie sie hieß, denn wir kannten sie nicht. Es ist alles gut gegangen: Seit der Bekanntgabe des Abmarschs, seit ungefähr vier Stunden, haben wir davor gezittert, getrennt zu werden. Beim geringsten Anzeichen von Gefahr würden wir uns eng zusammenschließen, die für uns so wertvolle Reihe bilden. Klar ist, dass wir zusammen gehen würden, egal wohin, egal wie schlimm es kommen würde - und niemand weiß im Grunde, wo dieser unheilvolle Marsch hinführt -, vorausgesetzt, unsere Reihe hält, was neun Monate der Fall war, neun Monate, die wir nur durch unsere Freundschaft halbwegs überstanden haben. (Neun Monate, denen viele andere, im Gefängnis oder in verschiedenen Konzentrationslagern, vorangegangen waren, aber da kannten wir uns noch nicht.)

Deutsches Befehlsgeschrei dringt durch die Nacht. Es scheint, als komme es aus allen Richtungen: Es ist die SS (Aufseherinnen und Posten), [Die kursiven deutschen Worte sind auch im französischen Original deutsch geschrieben] die uns bewachen soll und uns mit ihrem vertrauten Zartgefühl antreibt. Der Marsch verläuft furchtbar chaotisch: die meiste Zeit langsam, unterbrochen durch abruptes Stehenbleiben und sogar Kehrtmachen - man fragt sich ständig, warum; dann von einem Moment zum anderen das Gegenteil, jetzt unter Befehlsgeschrei in schnellem Laufschritt. Aber nach ungefähr einer halben Stunde pendelt sich der Rhythmus ein und wir sind nur noch etwa zwei Mal die Stunde Kurskorrekturen ausgeliefert.

Die Kolonne zieht sich auseinander, wird länger und langsamer; Pausen sind nicht vorgesehen, das ist fürchterlich, wenn man »Pipi machen« muss. Es ist jedes Mal ein echtes Drama; du musst warten, bis die Kolonne vollkommen zum Stillstand kommt, was hin und wieder aus unerfindlichen Gründen, aber in regelmäßigen Abständen passiert. Dann musst du dich davon überzeugen, indem du die Ohren spitzt, dass der Lärm der rollenden Kieselsteine unter den Holzpantinen vorne nicht sofort wieder losgeht, denn nur in diesem Moment kannst du dir den Gürtel von deinem Arbeitsanzug - die lange Fabrikhose, die wir fast alle tragen - aufschnallen (»Ziemlich praktisch so eine Hose zum Reisen«, haben wir anfangs gesagt, wir können ja nicht an alles denken ... Tatsächlich werden wir sie frühmorgens, wenn es Tag wird, sehr nützlich und trotzdem noch zu dünn finden). Aber jedes Mal in diesem kritischen Moment setzt sich die Kolonne wieder in Bewegung.

Das Wetter ist schön. Sterne sind zu sehen. Unsere Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit und wir suchen begierig nach Hinweisschildern. Das erste versetzt uns in Erstaunen. Es braucht noch weitere, um uns zu überzeugen, dass wir wirklich in Richtung Dresden laufen. Wir wissen, dass die russische Front nicht weit davon entfernt verläuft und hätten gedacht, man würde uns eher in Richtung Tschechoslowakei führen, die einzig mögliche Lücke zwischen beiden Frontlinien - dachten wir, aber vielleicht war das schon längst nicht mehr der Fall?

Im Grunde genommen, so anstrengend das Gehen auf der Straße zu Anfang für unsere Beine war, weil sich wegen der kurzen Schritte die Muskeln verspannten, ist es, sobald du dich an den Marschrhythmus gewöhnt hast, nicht mehr so schlimm, ja fast angenehm: Die Nacht ist klar, eine kleine Brise weht uns durch die Haare. Wir sind so oft - in Freiheit - unter den Sternen und egal zu welcher Jahreszeit gewandert, Rucksack auf dem Rücken und Hände in den Hosentaschen. Unsere schweren Schuhe klappern auf den Wegen. Wie wir dieses Wandern lieben für all die Erinnerungen, die es uns zurückbringt. Wir sehen nicht mehr diese Schatten in Uniform auf beiden Seiten der Straße, ihre feindlichen Worte berühren uns nicht mehr und wir hören die Maschinengewehre nicht mehr ununterbrochen rattern, als wir durch die Wälder laufen. Wir marschieren wie im Traum und singen dabei aus vollem Hals unsere alten Wanderlieder. Wir vergessen, wie lange wir nicht geschlafen haben (Josée, die vorige Nacht noch in der Fabrik war, kommt zusammengezählt schon auf 36 Stunden ohne Schlaf. Ein endloser Appell morgens, stürmische Verteilung der letzten Suppe, eine sechs Stunden dauernde ununterbrochene Orchestrierung polyglotten Geschreis und Spießrutenlaufens, schließlich die Aufregung des Abmarschs, all das hat verhindert, dass jemand ein Auge zumachen konnte.) Wir marschieren immer noch, erstaunt, wie einfach es geht, und denken, das muss eine Falle sein und es wird nicht lange so weitergehen …

Schließlich bricht der Tag an und mit ihm kommt ein extrem eisiger Wind auf; es ist eine traurige Prozession von Frauen, in ihre Wolldecken gehüllt und doch schlotternd, die bei Tagesanbruch in einer kleinen Stadt ankommt, von der wir ganz bestimmt nie den Namen erfahren werden. Dort treibt man uns auf ein Feld am Straßenrand und es sieht so aus, als ob wirklich eine Pause gemacht wird. »Das Wichtigste ist, jetzt erst mal etwas zu essen, um sich aufzuwärmen«, sagen wir uns mit einem gewissen Hang zum Selbstbetrug, denn wir wissen nur zu gut, dass wir die ganze Zeit nichts anderes als Hunger haben werden und es zwecklos und lächerlich ist, so etwas zu sagen.

Wir haben beim Abmarsch einen überwältigenden Reiseproviant bekommen: einen Viertel Laib Brot, ungefähr 300 Gramm; die Hälfte von einem Stück Margarine, das heißt vom Volumen her etwa gleich groß wie das Brot, dazu vier Suppenlöffel einer fürchterlichen Streichwurst, die auf der Stelle gegessen werden musste, sonst drohte die sofortige Zersetzung. Da wir seit drei Tagen kein Brot bekommen hatten, mussten wir uns gut zureden, davon einen atomisierten Rest für die Reise aufzuheben, und so bestehen die zwei Brotscheiben, die wir uns zum Frühstück bewilligen, aus ungefähr zwei Millimeter Brot und eineinhalb Zentimeter Margarine. Wir trösten uns: »Glücklicherweise ist es kalt ... Das ist prima, weil die Margarine dann fest ist ... Gut ist auch, dass das so eklig ist, dass du gar keinen Hunger mehr hast.« Mit Magengrimmen legen wir uns, den Kopf auf unserem Gepäck, zufrieden hin. Frauen laufen um uns herum von einer Gruppe zur anderen, Frauen, die nicht müde sind und sich untereinander besuchen. Du siehst erstaunliche Dinge: Wir haben natürlich die Nacht gut überstanden, aber wir sind jung, wir sind ans Laufen gewöhnt. Doch niemand scheint wirklich müde zu sein, weder die große Raymonde, die sehr wackelig auf den Beinen ist, seit sie in einem Alptraum ganz oben vom viergeschossigen Stockbett gefallen ist, noch die arme kleine Erstsemester-Studentin, die mit einer schlimmen, schlecht ausgeheilten Bronchitis aus der Krankenstation kam, noch die alten Frauen. Trotzdem ist es außergewöhnlich: Die Berichte der anderen »Transporte«, die in den letzten Tagen im Lager zu hören waren, haben uns glauben lassen, dass es das absolute Grauen ist. Kopf hoch! Das ist doch nur Stimmungsmache …

Allerdings ist es so kalt, dass, zumal wir auf diesem Feld festsitzen, kaum an Schlafen zu denken ist und wir ungeduldig auf das Signal zum Abmarsch warten. Die SS friert genauso wie wir - es wird nicht ewig dauern. Wir marschieren gestärkt weiter und singen der aufgehenden Sonne entgegen. Mit der Zeit begreifen wir, wie unsere Bewachung organisiert ist: Der Konvoi setzt sich aus Kolonnen mit jeweils tausend Personen und einem Kolonnenchef (Maschinenpistole und Gewehr) zusammen, aufgeteilt in Untergruppen mit jeweils hundert Personen und einem Dutzend Posten (Gewehr) und einer Aufseherin (Revolver und Peitsche). Unsere hundert Personen starke Gruppe hat Glück bei der Aufteilung - außer mit einem Posten, den wir bis zum Schluss le petit salaud, den kleinen Fiesling, nennen werden. Er verteilt immer wieder Ohrfeigen und Schläge. (Nicole wird es nicht vergessen, schließlich hat sie da ihre letzten Rippenstöße von der SS bekommen.) Der andere Posten ist auch sehr jung, aber viel sympathischer; er gibt uns die wenigen Informationen, die er hat herausfinden können, weiter und macht uns Mut. Die Aufseherin, eine junge Blonde mit sportlichem Aussehen, hat ihre Peitsche beiseite getan und trägt einen langen rosafarben blühenden Pfirsichzweig in der Hand. Diese poetische Anspielung interpretieren wir als gutes Zeichen und sind ein wenig traurig, als sie den Zweig ein paar Stunden später einem Soldaten gibt, der uns auf der Straße begegnet.

Die Landschaft ist sehr flach und wirklich nicht malerisch, aber alles kommt uns so wunderbar vor: Die Bäume blühen, die Ziegen haben Zicklein wie im Bilderbuch, die Luft duftet, es ragt keine Fabrikmauer in den blauen Himmel hinein oder das Dach einer Baracke. Aus den Häuserfenstern schauen uns kleine Mädchen mit nachdenklichem Blick hinterher, kaum drei Jahre alt und schon mit langen blonden Zöpfen über den schmalen Schultern, und weißhaarige Großmütter winken uns mit fragendem und schmerzerfülltem Gesichtsausdruck zu. Wir laufen lächelnd vorbei, manchmal sogar herzhaft lachend, weil wir etwas trunken sind von der frischen Luft, weil wir wissen, dass dieser Frühling bald uns gehören wird, denn immer wieder fahren an uns staubige Lastwagen vorbei, beladen mit Gepäck, Fahrrädern, wettergebräunten Männern mit langen Gesichtern, Frauen mit grellen Halstüchern, und wir wissen nach den Erfahrungen von 1940 nur zu gut, dass es Gesichter der Niederlage sind ... und schließlich weil wir - wir, die Gefangenen - sehr oft eine kindliche Freude dabei empfinden, uns über die Aufmachung der freien Deutschen lustig zu machen, die wirklich an Stillosigkeit nicht zu überbieten ist.

Gegen zwei Uhr erreichen wir Wurzen, eine kleine Stadt an der Mulde, der Posten (genannt le Post) hat uns bereits vor einiger Zeit angekündigt, dass wir dort wahrscheinlich Pause machen werden. Als wir in die Stadt hineinkommen, drängen sich tatsächlich auf einer riesigen Wiese am Flussufer bereits eine Menge Menschen wie wir - offenbar Männer aus Buchenwald und Frauen aus dem Außenlager Taucha [Das Außenlager des KZ Buchenwald Taucha wurde ebenfalls von der HASAG betrieben. 1.350 Frauen mussten hier Zwangsarbeit leisten]. Dieser eigentlich grauenvolle Anblick von schmutzigen und müden Menschen - erstarrt in unruhigem Schlaf, erschöpft das dürftige Gepäck, das sie mitnehmen konnten, mit ihren Armen fest umklammernd - erfüllt uns dennoch mit einem gewissen Hochgefühl. Sind die Deutschen in Bedrängnis, weil sie so große Menschenmengen von Fremden planlos auf den Straßen von einer Front zur anderen eskortieren, so wie durch die Zerstörung ihres Ameisenhaufens überraschte Ameisen hektisch Eier, größer als sie selbst, in alle Richtungen wegschleifen?

Suzanne Maudet
Dem Tod davongelaufen. Wie neun junge Frauen dem Konzentrationslager entkamen
Aus dem Französischen von Ingrid Scherf, Hrsg. von Patrick Andrivet und Pierre Sauvanet
Assoziation A, 128 S., geb., 16,00 €

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!