- Politik
- Occupy-Bewegung
Auf dem Marsch durch die Institutionen
Einst wurde Occupy als außerparlamentarische Bewegung gegründet. 2015 starteten Ex-Protagonisten die Kampagne für die Präsidentschaftskandidatur von Bernie Sanders
Es war das Unverhoffte an Occupy Wall Street einige Jahre nach der Finanzkrise im Jahr 2008, an das sich die Bewunderer der Bewegung noch heute erinnern. Einige Hundert Menschen besetzten vor zehn Jahren, am 17. September 2011, den kleinen Zuccotti-Park in der Nähe der New Yorker Börse. - unangekündigt, aber gut organisiert. Ihr Protest gegen den Einfluss der Finanzmärkte war ein Schuss vor den Bug der Demokratischen Partei. Mehr als 100 000 Demonstranten zogen danach in rund 600 Städten der Vereinigten Staaten nach, besetzten auch dort Plätze. In Deutschland schlugen Aktivisten in Frankfurt am Main und Hamburg Occupy-Camps auf. In den USA wird Occupy heute vor allem als Patin der Kampagnen für die Präsidentschaftskandidatur von Bernie Sanders gesehen.
Kritiker erinnern indes vor allem an den relativ schnellen Zerfall der Bewegung; an den Unwillen der Aktivisten, ein Programm zu formulieren, die inneren Spannungen im Zuge der Parkbesetzung, Gerüchte um Antisemitismus sowie die sich verschlechternde Sicherheitssituation im Camp vor der gewaltsamen Räumung durch die Polizei am 15. November. Tom Hayden, der damals im Zuccotti-Park dabei war, sagt im Gespräch mit »nd«, er habe wegen des Rückschlags für Occupy große Angst um die Wiederwahl Obamas gehabt. Bereits damals begann Donald Trump auch wegen der vagen Occupy-Forderungen nach Umverteilung des Reichtums, sich auf eine Karriere in der Politik vorzubereiten. Große Teile der Gesellschaft waren damals jedoch sehr offen gegenüber der Bewegung, die allerdings oft chaotisch wirkte.
Gerade ihr jähes Ableben trägt indes heute zum Mythos Occupy bei. Die Bewegung starb jung wie ein Rockstar und kann folglich nicht mit normalen Maßstäben gemessen werden. Und so lässt sich auch nicht feststellen, ob es ohne Occupy wirklich keine Sanders-Kampagne gegeben hätte? Aber tatsächlich wurde Occupy-Aktivist Winnie Wong später Seniorberater von Sanders, und Charles Lenchner leitete die Onlinekampagne für Occupy ebenso wie die für Sanders. Aus Occupy ging die Gruppe »People for Bernie« im Jahr 2015 hervor. Der Afroamerikaner Maurice Mitchell, Leiter der Working Families Party, behauptet gegenüber der Zeitschrift »The Atlantic«: »Occupy hat die politische Kultur Amerikas deutlich verschoben, Liberale wurden radikalisiert, und Radikale wurden auf Wahlergebnisse eingeschworen.« Und Occupy hat Themen besetzt: die Verschuldung von Studenten und Mietern, die die Demokraten auch unter Barack Obama vernachlässigten, weshalb viele Menschen von ihrem früheren Hoffnungsträger schwer enttäuscht waren. Viele Banken und Finanzunternehmen hatten sich 2011 von der Finanzkrise 2007/2008 erholt. Millionen Bürger litten aber weiterhin unter den Folgen, hatten ihre Jobs, ihre Altersvorsorge und ihre Häuser verloren.
Doch das Exzentrische der Bewegung schreckte seinerzeit auch viele ab, etwa die Ablehnung von Gremien und Strukturen. Selbst Mikrofone wurden verabscheut. Man setzte auf das »human microphone«, was bedeutete, dass gesprochene Sätze von Nebenstehenden laut wiederholt wurden. Der vor einem Jahr verstorbene David Graeber, Schlüsselfigur von Occupy und Anarchist, erinnerte sich an 800 000 gespendete Dollar, die im Zuccotti-Park in einer Mülltüte aufbewahrt wurden. Im engen Raum des Parks wurde spätestens, als sich auch viele Obdachlose dort einfanden, eine organisatorische Überforderung deutlich - trotz großen Einsatzes von Aktiven in der Küche oder bei der Technik. Occupy-Mitbegründer Micha White, Teil eines kanadischen Adbuster-Teams, beschreibt gegenüber dem »Guardian« den Werdegang der Bewegung heute als Niederlage für den Aktivismus an sich.
Wenn Occupy die Kandidatur von Sanders voranbrachte, so macht auch diese Entwicklung eine Kapitulation gegenüber der Berufspolitik deutlich. Aber kann die Demokratische Partei die Occupy-Anliegen jetzt voranbringen, obwohl sich die Kritik vor zehn Jahren gerade gegen sie richtete?
Die Gründer von Occupy setzten seinerzeit auf programmatische Unklarheit, um die Bewegung und den Konsens möglichst breit zu halten. Joe Biden und Bernie Sanders versuchen heute etwas Ähnliches, indem sie trotz unterschiedlicher Ansätze kooperieren. Doch es ist offen, ob die Biden-Administration den Bürgern nutzen wird oder doch wieder Konzernen und Finanzindustrie.
Die Parole »Wir sind die 99 Prozent«, die Occupy einst berühmt machte, bildet sich jedenfalls im politischen Alltag nicht ab. Die demokratische Ex-Senatorin Heidi Heitkamp aus North Dakota bekämpft jetzt als Lobbyistin die Politik von Bernie Sanders, und zwar im Namen der ländlichen Hausbesitzer, die fürchten, ihre Häuser durch die Einführung einer Erbsteuer womöglich zu verlieren. Schafft es die professionelle Politik die Wogen zu glätten, aus Nothilfe nachhaltige Sozialstrukturen zu bauen? Oder ist das Demokratische Establishment nur der Wolf im Schafspelz? Wer rettet am Ende wessen Interessen? Es ist ein langer Weg. Die Occupy-Bewegung dient progressiven Kräften heute als Inspiration und als Mahnung gleichermaßen.
Die Soziologin Heather Hurwitz, Autorin des Buches »We are the 99%?«, findet zudem, dass Occupy die Gesellschaft der USA durchaus in vielen Bereichen verändert und die Politik »auf Jahre geprägt« hat. Die Energie der Aktivistinnen und Aktivisten sei nicht nur in die Sanders-Kampagne geflossen, sondern auch in die antirassistische »Black Lives Matter«-Bewegung, die Klimaschutzbewegung, die große Frauenkundgebung gegen den das frauenfeindliche Programm des neuen Präsidenten Donald Trump 2017, urteilt Hurwitz. Sie hat zusammen mit Kolleginnen und Kollegen ein digitales Occupy-Archiv angelegt. Und sie kritisiert, dass Occupy zwar weitreichende Forderungen wie die nach höheren Steuern für die Reichen oder einer Bankenreform erhob, es aber versäumte, Ursachen von Unterdrückung und Diskriminierung zu analysieren.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.