- Politik
- Nach der Wahl
Parteien im Rausch der Modernisierung
Die diskursive Klammer für eine künftige Koalition scheint gefunden
Bei den Verhandlungen über eine Regierungsbildung geben bisher Grüne und FDP den Ton vor. Dass sie ihr erstes Spitzentreffen per Selfie in alle Welt schickten, ist kein Zufall: Man will als jung und frisch rüberkommen, als Erneuerer nach der Ära Angela Merkel. Und so kommt es, dass sich ausgerechnet die Spitzen von zwei Parteien, die sich vor nicht allzu langer Zeit noch heftig bekämpften, offenbar gar nicht so schlecht verstehen.
Im Bereich der Politik muss es natürlich um mehr gehen als um ein Gruppenselfie. Es braucht ein gemeinsames Projekt, das die gerne bemühte »Aufbruchstimmung« repräsentiert, eine gemeinsame Formel. Und diese scheint gefunden: Schon seit dem Wahlabend sind die Stimmen der Protagonisten kaum noch unterscheidbar, denn alle sprechen von »Modernisierung«: Für FDP-Chef Christian Lindner ist es eine sehr gute Idee, dass Grüne und FDP sich erst einmal zusammensetzen, um gemeinsam zu überlegen, welche Form der Modernisierung in Deutschland möglich sei. Der Grünen-Politiker Cem Özdemir sieht in der Digitalisierung, im Klimaschutz und in der Modernisierung des Landes einen gemeinsamen Auftrag. Der mögliche künftige SPD-Kanzler Olaf Scholz lässt sich da auch nicht lumpen und nennt drei Schwerpunkte für eine von ihm geführte Ampel-Koalition: mehr Respekt in der Gesellschaft, das Aufhalten des menschengemachten Klimawandels und die industrielle Modernisierung des Landes. Die CDU übrigens spricht sogar von einem »Jahrzehnt der Modernisierung« und will eine »Zukunftskoalition« führen, was aber nur als durchsichtiger Trick erscheint, das politische Überleben des gescheiterten Armin Laschet zu sichern.
Der Begriff »Modernisierung« hat für Strategen zwei Vorteile: Er ist positiv besetzt und mit allem Möglichen füllbar. Für die Grünen ist es der Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft Richtung Klimaneutralität, für die FDP Bürokratieabbau und Digitalisierung, für die SPD der höhere Mindestlohn. Dabei ist fast schon skurril, dass ausgerechnet »Modernisierung« die Zauberformel für Beliebigkeit im postmodernen Politiksystem werden könnte.
Denn wenn man sich anschaut, was konkret gemeint ist, findet sich wenig Glanz. Die FDP hält ihre Steuerkonzepte von anno dunnemals für modern, die Grünen den Klimaschutz, der nur eine verspätete Umsetzung internationaler Verpflichtungen ist. Und die Digitalisierung der Schulen ist bestenfalls eine nachholende Entwicklung, die viele andere Länder längst hinter sich haben. Zum Problem wird das nicht, denn »Modernisierung« wirkt mehr auf der symbolischen als auf der faktischen Ebene.
So ein bisschen fühlt man sich an den Machtwechsel nach den bleiernen Jahren der konservativen Ära Helmut Kohl erinnert. Damals war ein ähnlicher Begriff der Schlüssel zum Erfolg von Rot-Grün: »Reformen«. Diese sollten die verkrusteten Strukturen aufbrechen und für frischen Wind sorgen. Was die Reformen brachten, ist bekannt: massive Rentenkürzungen, Steuergeschenke für Topverdiener und Unternehmen und natürlich die Agenda 2010 mit ihrem Kahlschlag in der Arbeitsmarktpolitik.
Natürlich war dies eine andere Zeit. Damals dominierte noch der Neoliberalismus den öffentlichen Diskurs, was letztlich der Grund dafür war, dass dies alles ohne große Proteste durchzusetzen war. Heute gibt es keine stringente Ideologie, aber eine progressive Opposition steht vor einem ähnlichen Problem. Natürlich wird die AfD, die sich als Stimme der selbst ernannten Globalisierungsverlierer etabliert hat, gerne mit tumber Rhetorik die Modernisierung als neue Verschwörung der Elite gegen das Volk geißeln. Für die Linke hingegen wird es schwer: Letztlich steht sie ja auch für eine Modernisierung, wenngleich für eine tiefer gehende, »sozial-ökologische Transformation«. Ihr wird wohl nichts übrig bleiben, als im Klein-Klein der einzelnen Regierungsmaßnahmen beharrlich sachbezogene Kritik vorzutragen.
Ob eine Koalition wirklich per Modernisierungsklammer zustande kommt, ist natürlich noch unklar. Das Parteiwesen mit seinen Interessen und Netzwerken hat seine eigenen Regeln. Doch der Begriff funktioniert nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Die Spitzenpolitiker scheinen selbst daran zu glauben, reden sich geradezu in Euphorie. Und so könnten die Kröten, die bei den Koalitionsverhandlungen alle schlucken müssen, im Rausch der Modernisierung plötzlich süß schmecken.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.