»Das scheinbar Unmögliche kann wahr werden«

Jens Söring wurde wegen Mordes verurteilt und verbrachte mehr als 33 Jahre in US-Gefängnissen. Doch er kam überraschend frei.

  • Philipp Hedemann
  • Lesedauer: 8 Min.

Herr Söring, überfordert die Freiheit Sie manchmal noch?

Nein, mein Leben ist super! Ich wache jeden Tag glücklich auf und gehe jeden Tag glücklich ins Bett. Aber unmittelbar nach meiner Freilassung haben die vielen Entscheidungen, die man täglich treffen muss, mich überfordert. An der Wursttheke, beim Bäcker, im Supermarkt: Immer und überall muss man Entscheidungen treffen. Mittlerweile bin ich sehr gut darin, Entscheidungen zu treffen.

Als Sie 19 Jahre alt waren, waren Sie nicht so gut darin. Damals gestanden Sie, die Eltern Ihrer damaligen Freundin Elizabeth Haysom ermordet zu haben. Warum haben Sie das getan?

Ich handelte in bester Absicht. Ich dachte, ich könnte einen Menschen, den ich geliebt habe, vor der Todesstrafe retten, indem ich ein falsches Geständnis ablege. Weil mein Vater Diplomat war, dachte ich, ich würde Immunität genießen. Ich ging davon aus, dass ich nach Deutschland ausgeliefert und dort nach Jugendstrafrecht zu maximal zehn Jahren Haft verurteilt werden würde. Als 18-Jähriger dachte ich, das sei ein guter Deal, um einen Menschen vor dem elektrischen Stuhl zu retten. Ich wusste damals nicht, dass die diplomatische Immunität nicht für mich galt.

Aber Sie wussten, dass das Geständnis Sie für Jahre ins Gefängnis bringen würde. Wollten Sie ein Held sein?

Damals dachte ich, ich sei ein Held. Aber ich bin definitiv keiner. Mein Versuch, den Helden zu spielen, hat Elizabeth Haysom und mich 33 Jahre unseres Lebens gekostet. Hätte ich kein falsches Geständnis abgelegt, hätte man uns wahrscheinlich gar nicht anklagen können. Denn es gab ja keine belastbaren Beweise gegen uns.

Warum haben Sie Ihr Geständnis zurückgezogen?

Weil es eine Lüge war. Ich habe Derek und Nancy Haysom nicht umgebracht. Nachdem im Prozess gegen Elizabeth Haysom klar wurde, dass ihr nicht die Todesstrafe drohte, gab es keinen Grund mehr für mich, mein falsches Geständnis aufrecht zu erhalten.

Elizabeth Haysom wurde zur gleichen Zeit wie Sie auf Bewährung entlassen. Im Prozess gegen Sie hat sie als Zeugin ausgesagt, Sie hätten ihre Eltern getötet. Haben Sie ein Bedürfnis nach Rache?

Ach Quatsch! Das ist doch Blödsinn! Natürlich nicht! Wieso denn?

Weil Sie mehr als 33 Jahre im Gefängnis saßen.

Natürlich hat sie mir sehr großen Schaden zugefügt. Aber der Hauptverantwortliche bin und bleibe ich. Ich war 18, als ich mit einem Begabtenstipendium an eine amerikanische Eliteuniversität kam. Ich war ein Streber mit dicker Brille. So ein Typ aus der ersten Reihe, der immer alles wusste. Ich hatte keine Freundin und war total unsportlich. Trotzdem hat Elizabeth Haysom mich auserwählt, ihr Freund zu sein. Sie war damals die Bienenkönigin unseres Studentenwohnheims. Aber drei forensische Psychiater haben bei ihr ein Borderline-Syndrom diagnostiziert. Diese Diagnose wirkt strafrechtlich und auf menschlicher Ebene schuldmindernd.

Würden Sie gerne noch mal mit ihr sprechen?

Um Gottes willen, nein! Nein, nein, nein!

Wenn nicht Sie der Mörder von Elizabeth Haysoms Eltern sind, wer ist es dann?

Das kann ich nicht wissen, denn ich war in der Tatnacht Hunderte Kilometer vom Tatort entfernt.

Wie schafft man es, 33 Jahre im Gefängnis durchzuhalten, ohne sich selbst aufzugeben?

Das Wichtigste ist die eigene Haltung. Man muss für sich und seine Situation rigoros die Verantwortung übernehmen. In meinem Fall hieß das zu akzeptieren, dass ich mich selbst ins Gefängnis gebracht habe. Ich habe von Anfang an gesagt: Ich bin der Idiot. Mein falsches Geständnis hatte Konsequenzen, die ich seit 35 Jahren trage. Zu akzeptieren, dass man selbst verantwortlich ist, ist der Schlüssel, um sich freikämpfen zu können. Man darf sich nicht in die Opferrolle begeben.

Wofür haben Sie im Gefängnis gekämpft?

Für Freiheit und Gerechtigkeit.

Ihre Freiheit haben Sie sich erkämpft. Aber was ist mit der Gerechtigkeit? Sie sind auf Bewährung frei, aber nicht begnadigt ...

Dass ich überhaupt hier sitze, ist schon ein stilles Eingeständnis der US-Justiz, dass ich unschuldig bin. Jeder, der sich mit der amerikanischen Justiz auskennt, weiß, dass Menschen, die zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, nur ganz, ganz selten rauskommen.

Warum hat man Sie freigelassen?

Es ist nur dadurch zu erklären, dass auf allerhöchster Ebene so schwere Zweifel an meiner Schuld bestanden, dass man nicht bereit war, mich nicht noch länger im Gefängnis zu lassen.

Nicht nur in US-Gefängnissen kommt es vor, dass Häftlinge von anderen Insassen vergewaltigt werden. Mussten Sie diese Erfahrung auch machen?

Nach Untersuchungen werden in US-Strafanstalten jedes Jahr zwischen 200 000 und 400 000 Häftlinge Opfer sexualisierter Gewalt. Nach meiner Verurteilung wurde ich aus der Untersuchungshaft in ein Strafgefängnis verlegt. In einer meiner ersten Nächte dort musste ich mit ansehen, wie ein Häftling von zwei anderen vergewaltigt wurde. Das war schockierend, besonders, weil die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen wurden.

In der Nacht nach Ihrer Verurteilung haben Sie sich eine Plastiktüte über den Kopf gezogen, um sich selbst zu ersticken. Warum wollten Sie damals sterben?

Weil dieses Fehlurteil für mich nicht akzeptabel war. Ich habe versucht, mich dem Fehlurteil durch Selbstmord zu entziehen, aber es hat nicht funktioniert. Ich war offensichtlich zu feige, um es durchzuziehen.

2004 hat sich Ihr Zellengenosse an Ihrem gemeinsamen Hochbett erhängt. Viele Häftlinge, die eine lebenslange Haft verbüßen müssen oder auf ihre Hinrichtung warten, versuchen, sich selbst zu töten. Was hat Sie davon abgehalten, einen weiteren Suizidversuch zu unternehmen?

Der Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit. Hätte ich mich selbst umgebracht, hätte die andere Seite gewonnen. Sie sollten mich niemals brechen, mich niemals kleinkriegen. Außerdem wollte ich nicht all meine Freunde und Unterstützer enttäuschen.

Politiker wie Angela Merkel und Christian Wulff, Prominente wie der Bestsellerautor John Grisham und viele weitere Menschen in Deutschland und den USA haben sich für Ihre Freilassung eingesetzt. Wie wichtig war Ihnen diese Unterstützung?

Extrem wichtig. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft.

Auch Ihr Vater und Ihr Bruder hielten lange zu Ihnen. 2001 ist der Kontakt dann abgebrochen. Was war passiert?

Darüber möchte ich nicht sprechen. Mein Vater und mein Bruder haben genug unter mir gelitten.

1997 starb Ihre alkoholkranke Mutter. Sie hatte bis zuletzt bedingungslos zu Ihnen gehalten und sehr unter Ihrer Verurteilung gelitten. Fühlen Sie sich für den Tod Ihrer Mutter verantwortlich?

Viele Jahre lang habe ich mich für ihren Tod verantwortlich gefühlt und fand, dass ich deshalb eine meiner beiden lebenslangen Haftstrafen verdient hätte. Aber das hat sich geändert. Meine Mutter war bereits alkoholabhängig, bevor ich festgenommen wurde.

Sie haben kein abgeschlossenes Studium und keine Berufsausbildung. Wie wollen Sie Geld verdienen?

Als Schriftsteller und Redner.

Worüber wollen Sie sprechen?

Ich will den Menschen Mut machen, indem ich ihnen sage, dass das scheinbar Unmögliche Wirklichkeit werden kann. So wie bei mir. Denn bis zuletzt hätte ja kaum jemand gedacht, dass ich jemals lebendig das Gefängnis verlassen würde. Man kann auch in scheinbar ausweglosen Situationen weiterkämpfen, bis sich ein Ausweg öffnet.

Glauben Sie, dass ein rechtskräftig verurteilter Doppelmörder viele Engagements erhalten wird?

Es ist tatsächlich die Frage, wer mir eine Chance geben wird. In den Vereinigten Staaten wäre das sicher schwieriger. Aber hier in Deutschland ist die Gesellschaft toleranter.

Haben Sie keine Angst, dass Ihre Vergangenheit, Sie einholen könnte?

Nein. Als ich rauskam, haben mir einige meiner Freunde geraten, meinen Namen zu ändern und irgendwo ganz anonym zu leben. Also zu verschwinden. Aber hätte ich das getan, wären diese 33 Jahre, sechs Monate und 25 Tage, die ich in Haft verbracht habe, verlorene Zeit gewesen. Ich habe mich dagegen entschieden. Stattdessen habe ich versucht, aus meinem Leben im Gefängnis eine Quintessenz zu ziehen, etwas, womit ich anderen Menschen in existenziellen Notlagen helfen kann. Wenn mir das gelingt, dann bekommt die Haft einen Wert.

Sie haben keine Haftentschädigung erhalten, haben keine Partnerin, keinen Kontakt zu Ihrem Vater und Ihrem Bruder. Ihre Mutter ist gestorben und Sie sind - je nach Sichtweise - als Justizopfer oder Doppelmörder weltberühmt geworden. Was empfinden Sie, wenn Sie auf Ihr bisheriges Leben zurückblicken?

(Söring schweigt lange. Zum ersten Mal im Interview ringt er um Fassung und Worte. Schließlich sagt er mit zunächst brüchiger, dann fester Stimme:) Das erste und das Wichtigste ist Dankbarkeit.

Dankbarkeit? Habe ich Sie richtig verstanden?

Ja, Dankbarkeit! Seit meiner Verhaftung haben sich sehr viele Menschen für mich eingesetzt, obwohl ich ihnen wirklich keinen Grund dafür gegeben habe. Sie hätten mich hassen oder verachten können. Stattdessen haben sie sich für mich eingesetzt.

Wie fällt die vorläufige Bilanz Ihres Lebens aus?

Natürlich ist mein Leben auf gewisse Art eine Katastrophe. Aber ich habe während der Haft auch vieles erreicht. Als ich noch in England inhaftiert war, habe ich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geklagt. Das hat die internationale Rechtsprechung geändert. Seitdem können Menschen von Europa nicht mehr in die USA ausgeliefert werden, wenn ihnen dort die Todesstrafe droht. Und ich habe es geschafft, das Gefängnis lebend zu verlassen. Wenn ich zurückblicke, muss ich sagen: Ich hätte es schlechter machen können. Wenn Donald Trump bei seinem Auszug aus dem Weißen Haus nicht Frank Sinatras Lied gespielt und es so für immer versaut hätte, würde ich sagen: »I did it my way!«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.