- Reise
- Kraniche auf dem Darß
Glücksgefühle
Wenn die Kraniche kommen, herrscht Ausnahmezustand im Revier. Bei den Vögeln sowieso, bei den Menschen auch
Es ist ein Schauspiel par excellence. Im Minutentakt schwebt Kranichstaffel um Kranichstaffel über dem Kirr ein. Mal in kleiner Schar, mal in großer Formation, mal in tanzender Kette, mal als perfekter Keil – immer jedoch mit Megarabatz. Abend für Abend. Jahr für Jahr. Im September und Oktober rasten bis zu 90 000 Kraniche in der Darß-Zingster-Boddenkette. Hier tanken sie auf für den Weiterflug gen Süden. Zum Beispiel in die Extremadura zu Graukranichs Leibspeise – den leckeren Früchten der Korkeichen.
Die unbewohnte Insel Kirr zwischen Zingst und Festland ist eine Art Fünf-Sterne-Luxus-Bett. Zum Greifen nah in Ferngläsern und Superzooms und doch unerreichbar fern. Auf dem Kirr kommt den Kranichen kein Mensch in die Quere und nur selten ein Räuber zu nahe. Hier schlafen sie vollkommen ungestört, auf beiden Beinen stehend, knietief im Wasser. Perfekt abgeschirmt und trotzdem gut zu sehen – vom Zingster Deich und dem Festland vis-à-vis.
»Die Kranichrast ist eines der letzten Naturschauspiele, die man in Europa bewundern kann«, sagt Dr. Günter Nowald, Geschäftsführer der gemeinnützigen Kranichschutz Deutschland GmbH. »Und die Schlaf- und Rastplätze an unseren Boddengewässern sind als Kulisse besonders charmant und unschlagbar für die Kranichbeobachtung.« Das wissen auch Abertausende Zugvögel, die im Schlepptau der Vögel mit Fernglas und Kamera ins Revier pilgern. Jeder Kranich bringe einen netten Menschen mit, meint der Chef. Wohl wahr: Kaum etwas anderes verbindet Heerscharen von Leuten zu glückseligen Gleichgesinnten und mitunter sogar Freunden fürs Leben wie der Kranich.
Die Menschen lieben Kraniche
Kein anderer Vogel übte je so einen Reiz auf die Menschen aus. Schon in der Mythologie galten Kraniche als Symbol für Weisheit und Treue, als Sinnbild für Wachsamkeit und Klugheit. Sie sind verankert in nahezu jeder alten Kultur. Es gibt sie auf altägyptischen Grabplatten und in russischen Märchen. In Indonesien hält man sie für die ersten Lebewesen auf der Welt, in Korea dürfen sie auf keiner Neujahrskarte fehlen. In Indien verehrt man den Kranich als Gott, in China als Himmelsboten und in Japan steht eine Origami-Kopie für langes Leben und Gesundheit.
Bei uns ist der Wächterkranich auf Kirchenportalen und Adelswappen zu finden. Sein Beiname »Vogel des Glücks« stammt vermutlich aus Schweden, wo er als Frühlingsbote mit Wärme, Sonne und Licht das Ende der dunklen, kalten Zeit einläutet. Und dann ist da noch der Traum vom Fliegen. Nicht mal die majestätischen Adler verkörpern diese Sehnsucht des Menschen so grandios wie die in großen und auffälligen Formationen ziehenden Kraniche. Die zu Jahreszeiten auf Reisen gehen, wo man sich gern an ihre Schwingen heften möchte, um das graue und nasskalte Wetter hinter sich zu lassen.
All das und noch sehr viel mehr über den Sympathieträger Nummer eins erfährt man im Nabu-Kranichzentrum in Groß Mohrdorf, 15 Kilometer westlich von Stralsund. Zum Beispiel, dass Günter Nowald und sein Team als Spezialisten für Kranichfang und Kranichmarkierung, Farbberingung und Besenderung in ganz Europa tätig und sogar in Asien und Afrika hochgeschätzt sind. Aber vor allem für die Kranich-Exkursionen vor Ort sollte das Zentrum die erste Adresse sein: »Wenn man vorher in die Welt der Kraniche eintaucht, erlebt und beobachtet man ganz anders. Man nimmt viel mehr wahr und nimmt viel mehr mit.«
Theaterbühne für die Vögel
Wer dann richtig heiß auf Kraniche ist, muss nicht weit fahren: zum Kranorama am Günzer See. Speziell im Herbst eine gigantische Theaterbühne für massenhaft Kraniche und Gänse, auf der man sich so lange satt sehen kann, wie man will. »Wenn man im Frühjahr so ein tanzendes Paar vor sich hat und dazu noch eine schöne Nebellage, dann ist das Faszination pur«, schwärmt der leidenschaftliche Fotograf Nowald. »Aber auch, wenn sie im Herbst vor untergehender Sonne zu ihren Schlafplätzen fliegen, ist das schlicht und einfach fantastisch.«
Allerdings: Wie überall in der Natur kann auch im Kranich-Land Vorpommern keine Rede sein von Friede, Freude, Eierkuchen. Mit Sorge beobachten Vogelkundler und Ornithologen die Auswirkungen des Klimawandels. So hat in den letzten Jahren zum Beispiel die Reproduktion der Vögel dramatisch abgenommen – durch eingeschränktes Nahrungsangebot und trockene Brutplätze, wodurch auch Nesträuber immer leichter an ihre Beute kommen. »Im letzten Jahr hatten 80 Prozent der Paare, die wir im Juni zum Beringen der Jungvögel aufgesucht haben, keinen Nachwuchs«, berichtet Günther Nowald, »und der ganze Bestand hängt von immer weniger guten Brutpaaren ab.« Und auch die Prognosen sind eher düster: Nach dem aktuellen »Brutatlas europäischer Vögel« wird der Kranich über kurz oder lang seine Brutheimat weiter in den Norden verlagern und als Brutvogel in Deutschland aussterben. So viel steht fest!
Noch aber kann prinzipiell jedermann echte Glücksgefühle im Kranorama erleben. In Fotohütten auf dem Gelände kommt man den Kranichen räumlich, mit Leica-Spektiven von den Aussichtsluken optisch sehr nah. Fakten und Wissen steuern die Kranich-Ranger bei. Und wie auf Kommando wird’s gerade ganz hektisch. Ein Seeadler ist im Anflug. Die heute etwa 700 Kraniche ziehen sich blitzschnell zusammen zu einer Art Wagenburg-Kreis. »Kein Seeadler mit gesundem Vogelverstand legt sich an mit einem wehrhaften Kranich«, meldet sich Günter Nowald noch einmal zu Wort. »Allerdings haben wir hier ein paar Spezialisten, die alte und kranke Vögel selektieren.« Unterbricht dann abrupt und klickt Trommelfeuer mit der Kamera. Denn jetzt steigt die Kranichschar auf. Alle auf einmal. Schimpfend wie Rohrspatzen drehen sie eine Runde. Und noch eine. Und eine dritte. Dann legt sich die Aufregung langsam. Der Feind ist weg. Was für eine Show!
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