»Wenig Bezug zum Normalo-Leben«

Dokumentiert: Die Sozialistische Linke findet, die Ausrichtung auf Jüngere und höher Gebildete ist wahlpolitisch gescheitert

  • Lesedauer: 4 Min.

Einige Genoss*innen äußerten in den letzten Tagen verwundert, dass wir wohl doch nicht so viele Stammwähler*innen hätten wie angenommen. Wir sagen: wir hatten mal mehr Stammwähler*innen, haben diese aber verloren. Die Zahlen sprechen für sich: Die Linke hat besonders stark bei weniger Gebildeten, bei Erwerbstätigen und bei Rentner*innen sowie in der Fläche (v.a. in Ostdeutschland) verloren. Bei der Kerngruppe der Erwerbstätigen hat sie ihren Stimmenanteil gegenüber 2017 halbiert, gegenüber 2009 nahezu gedrittelt und liegt unter fünf Prozent. Unter Gewerkschaftsmitgliedern hat sie sich ebenfalls fast halbiert gegenüber 2017 und liegt hinter FDP und AfD bei gerade mal 6,6 Prozent Zuspruch. Für eine sozialistische Partei, die den Anspruch hat, die Interessen der arbeitenden Bevölkerung zu vertreten, ist das ein Armutszeugnis. Ebenso sieht es bei der zahlenstarken Gruppe der Rentner*innen aus. Noch krasser stellt sich der Absturz dar, wenn die Bevölkerung ohne Hochschulberechtigung betrachtet wird: Hier liegt Die Linke mit um die drei Prozent auf dem Niveau einer Splitterpartei.

Dokumentiert: Migrantische Politiker*innen fordern Auseinandersetzung mit den Positionen von Sahra Wagenknecht

Die faktische politische Ausrichtung der Linken auf die Jüngeren und höher Gebildeten, die sich vor allem in Universitätsstädten konzentrieren, ist wahlpolitisch gescheitert. Selbstverständlich sind neue (junge) Mitglieder willkommen und wir freuen uns sehr darüber, dass Die Linke für viele junge Leute attraktiver geworden ist. Wir wollen uns gerne zusammen mit ihnen für eine starke und eigenständige Linke einsetzen. Aber: Wenn über 60 Prozent der Wahlberechtigten und wahrscheinlich fast zwei Drittel der Wählenden über 50 Jahre alt sind, muss diesen Gruppen eine zentrale Aufmerksamkeit gelten.

Die Linke hat zwar im Wahlkampf viele soziale Themen angesprochen. Trotzdem ist es der SPD durch Fokussierung auf wenige Forderungen (Mindestlohn von zwölf Euro, Wohnungsbau) besser gelungen, möglichen Wähler*innen deutlich zu machen, wofür steht und was sie konkret erreichen will. Ihre mögliche Achillesferse mangelnder Glaubwürdigkeit wurde von uns nicht angegangen. Dagegen ist unser Profil in den vergangenen Jahren zunehmend unscharf geworden. Für eine starke Linke ist es nötig, dass die Partei ihr Profil klärt und stets deutlich macht, dass sie eine konsequente Interessenvertretung der Arbeitenden und sozial benachteiligten Mehrheit der Bevölkerung ist. Dazu gehören selbstverständlich Menschen jeglichen Geschlechts und sexueller Orientierung und in zunehmendem Maße Menschen mit Migrationsgeschichte.

In den letzten Jahren haben sich problematische Entwicklungen verschärft fortgesetzt, die bereits das vergangene Jahrzehnt zunehmend geprägt haben. Zunehmend erscheint Die Linke vielen als eine politische Kraft, die vor allem Anliegen kleiner linker und Bewegungsmilieus in größeren Städten und dabei einseitige und/oder überzogene Positionen vertritt. Eine Verankerung in den Lebenswelten der »einfachen Leute«, der Berufstätigen und Familien, der »Normalos«, die hauptsächlich andere Probleme und Aktivitäten haben als politische im engeren Sinne, gibt es immer weniger. Das entspricht in diesen Städten in zunehmendem Maße auch der Zusammensetzung und den Prioritäten der Aktiven. Viele v.a. der in den letzten Jahren neu hinzugekommenen Mitglieder und Aktiven kommen aus studentischen oder »Szene«-Milieus und haben wenig Bezug zu Alltagsproblemen von breiten Schichten der Bevölkerung.

Wir möchten diese neuen, aber auch alle anderen Genoss*innen davon überzeugen, dass wir eine sozialistische Massenpartei brauchen, die in der arbeitenden Klasse, den breiten Schichten des Volkes, in Stadt und Land, bei Jung und Alt, bei allen Geschlechtern, bei Einheimischen wie Eingewanderten verankert ist. Um diesem Ziel näher zu kommen, muss Die Linke verbindend und vereinheitlichend wirken - über kulturelle und Differenzen in einzelnen politischen Haltungen hinweg. Wirklich verbindende Klassenpolitik bedeutet die Betonung der gemeinsamen Interessen im Sinne der Solidarität und gleichen Rechte und Chancen aller hier lebenden Menschen, der ökologischen Nachhaltigkeit, des Friedens und der internationalen Zusammenarbeit.

Die Linke verfügt nur über wenige starke und bekannte Personen, es wurden auch keine aufgebaut. Janine Wissler hat sich im Wahlkampf und den Talkshows gut geschlagen und wichtige Punkte gesetzt. Die neuen Vorsitzenden waren bundesweit aber (noch) nicht sehr bekannt und waren bzw. wurden auf öffentliche Auftritte in Talkshows teilweise nicht genug vorbereitet. Umso mehr hat vor allem der öffentlich ausgetragene Konflikt der letzten Jahre mit und um Sahra Wagenknecht viele Sympathisant*innen irritiert und uns schwer geschadet. Dabei sehen wir, dass Sahras Äußerungen und Publikationen zur Zuspitzung der Konflikte beigetragen haben und dass es eine Teilgruppe von Wähler*innen gibt, die deswegen Die Linke nicht gewählt haben. Dennoch gilt unseres Erachtens für die Gesamtbevölkerung, dass Sahra in einer herausgehoben Position uns mit Sicherheit mehr Stimmen gebracht als sie uns auf der anderen Seite gekostet hätte.

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