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Vivantes setzt auf Entlastung
Krankenhausbewegung erzielt erneut Durchbruch, Tarifvertrag rückt näher
Bis in die Nacht zum Montag liefen dem Vernehmen nach die Gespräche zwischen der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und dem Klinikbetreiber Vivantes. Nach der Charité hat es auch hier eine Einigung gegeben, wie das Unternehmen im Anschluss mitteilte. Nach über einem Monat Streik heißt das: Nach der Charité hat nun auch Vivantes den Weg zum Abschluss eines Entlastungstarifvertrages eingeschlagen. Bis Ende November dieses Jahres soll der Tarifvertrag fertig sein, der Anfang 2022 in Kraft treten soll. Der Streik an der Charité ist bereits seit vergangener Woche ausgesetzt.
Verdi will an diesem Donnerstag zudem die Gespräche bei den Vivantes-Tochterunternehmen fortsetzen. Das ist der dritte laufende Tarifkonflikt. Der ehemalige brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) fungiert dabei als Mediator. Verdi setzt den Streik bei den Vivantes-Töchtern für die Verhandlungen aus, kann ihn allerdings wieder aufnehmen, wenn die Verhandlungen nicht zu Ergebnissen führen. Die Beschäftigten in den meist ausgegliederten Tochterunternehmen verdienen teilweise deutlich weniger als ihre Kolleg*innen im Mutterkonzern.
Die drei Tarifkonflikte – die Entlastung an Charité und Vivantes sowie die Angleichung der Vivantes-Töchter – haben im Kern die Angleichung der Arbeitsbedingungen in den Berliner Krankenhäusern und vor allem gute Arbeitsbedingungen zum Ziel. Im Fall der sogenannten Entlastungstarifverträge heißt das konkret: Die Krankenhäuser sind chronisch unterbesetzt, es gibt in allen Bereichen und auf allen Stationen zu wenig Personal, und Nachwuchs ist bei der harten und oft schlecht bezahlten Arbeit kaum noch zu finden. Deshalb fordern die Beschäftigten einklagbare Regeln für eine ausreichende Personalbesetzung.
Die Eckpunkte bei Vivantes ähneln denen bei der Charité. Die Begriffe unterscheiden sich, die Systematik ist im Kern die gleiche. Es wurde Bereich für Bereich geschaut, wo besondere Belastungssituationen bestehen und wie hoch die Belastung auf den unterschiedlichen Stationen genau ist. »Hebammen auf der Geburtsstation haben andere Bedürfnisse als die Kolleg*innen in der Notaufnahme oder auf einer Demenzstation«, erklärt Susanne Feldkötter, die Vizevorsitzende des Verdi-Landesbezirks Berlin-Brandenburg, mit Blick auf den Charité-Abschluss.
Es soll bei Charité und Vivantes ein Punktesystem eingeführt werden, mit dem konkret gesehen werden kann, wer wie viel Entlastung braucht. Beschäftigte erhalten, wenn die festgelegten Mindestbedingungen unterschritten werden, Belastungspunkte – bei der Charité etwa wenn eine Station unterbesetzt ist, wenn Leasingarbeitskräfte eingesetzt werden oder nach Gewalterfahrungen. Bei der Charité können die Punkte dann in Freizeitausgleich, Erholungsbeihilfen, Kinderbetreuungszuschüsse oder Altersteilzeitkonten umgewandelt oder für Sabbaticals eingesetzt werden. Vivantes sprach in seiner Mitteilung vom Montag von »Umwandlung in Freizeit oder Entgelt«.
Um Nachwuchs für Pflegeberufe zu gewinnen, will die Charité überdies drei neue Ausbildungsstationen und eine multiprofessionelle Intensiv-Lehrstation einrichten. Vivantes will die Ausbildungsbedingungen tariflich regeln, so etwa die Ausstattung mit Notebooks, die die Ausgelernten behalten können.
Unterm Strich sollen an der Charité in den nächsten drei Jahren mehr als 700 neue Pflegekräfte eingestellt werden. Seitens Vivantes hieß es, der Tarifvertrag solle eine Laufzeit von drei Jahren haben und von einer wissenschaftlichen Evaluation begleitet werden, um die Arbeitsbedingungen fortlaufend zu verbessern.
Die Tarifbewegung Entlastung an der Charité startete schon 2012. Den letzten Tarifvertrag hatte Verdi 2016 nicht verlängert, die Gewerkschaft wollte einen neuen Abschluss erstreiten. Der Grund: Die darin festgehaltenen Regelungen waren zu wenig auf die konkreten Bedürfnisse abgestimmt und überdies nicht einklagbar.
Dorothea Schmidt, Vivantes-Geschäftsführerin für Personalmanagement, sagte: »Nun gilt es, die technischen und organisatorischen Grundlagen für die Umsetzung des Tarifvertrages zu schaffen und diesen in der Praxis mit Leben zu füllen.«
Susanne Feldkötter hatte den erreichten Abschluss an der Charité gegenüber »nd« als »einmalig« bezeichnet. Er sollte »die Leitwährung in der gesamten Branche werden«. Die Beschäftigten waren in die Verhandlungen direkt mit einbezogen und konnten ihre Meinung zum Verhandlungsstand einbringen. Derzeit laufen vergleichbare Kämpfe um Entlastungstarifverträge auch in Brandenburg und weiteren Bundesländern.
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