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In der Hölle von Tripolis

Auf der Suche nach einem besseren Leben stranden viele Migranten in Libyen und werden dort von Sicherheitskräften drangsaliert

  • Mirco Keilberth
  • Lesedauer: 8 Min.

Queen schaut in diesen Tagen nur ungern auf ihr Telefon. Die 28-jährige Mutter aus dem nigerianischen Bundesstaat Biafra versucht wie viele Migrantinnen, die Zeit in »der Hölle« zu vergessen, wie sie ihre drei Jahre in Libyen nennt. Das Drama der vielen Tausend Menschen, die derzeit in Tripolis auf der Straße leben, bekommt sie live per WhatsApp mit. Landsleute, die nicht wie sie nach Tunesien fliehen konnten, haben seit dem Sturm der libyschen Sicherheitskräfte auf den Stadtteil Gargaresh alles verloren. »Den meisten wurden Mobiltelefone und ihr Lohn abgenommen. Die Bewaffneten durchsuchten auch ihre Kleidung. Ich erinnere mich noch sehr gut an das Gefühl, alle paar Wochen alles zu verlieren, was man sich mühsam angespart hat. Schlimm war für mich vor allem der Verlust sämtlicher Erinnerungen an Zuhause, Fotos, ein Amulett meiner Mutter.«

Auch knapp zwei Wochen nach der massiven Verhaftungsaktion libyscher Behörden und der darauf folgenden Flucht der Festgenommenen irren Tausende Migranten durch Tripolis. Mehr als 4000 mehrheitlich aus Subsahara-Afrika stammende Menschen waren am 2. Oktober in Gargaresh zusammengetrieben und in Bussen und auf den Ladeflächen von Pick-ups abtransportiert worden. Bei der Aktion schossen die unter der Befehlsgewalt des Innenministeriums stehenden ehemaligen Milizionäre auch auf Menschen, die aus Wohnungen geflohen waren. Sechs Tote und 22 Verletzte war die offizielle Bilanz der unangekündigten Razzia gegen »kriminelle Banden«, wie Premierminister Abdul Hamid Dabaiba den Einsatz beschrieb.

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Die Mehrheit der Migranten in der zwei Millionen Einwohner zählenden Metropole sucht in Wohngemeinschaften Schutz. Sie arbeiten als Tagelöhner auf Baustellen, Autowaschanlagen oder in Restaurants. Anders als ihre von Schleppernetzwerken hinter Mauern sogenannter Ghettos festgehaltenen Landsleute können sie sich frei bewegen - wie früher, als Libyen rund eine Million Gastarbeiter hatte.

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR und die Organisation für Migration IOM hatten vor zwei Jahren mit dem damaligen libyschen Innenminister Fathi Bashaga vereinbart, die offiziellen Lager für Migranten und Flüchtlinge zu schließen. Seitdem werden die 44 000 von den Vereinten Nationen registrierten Menschen in »Nachbarschaftszentren« betreut. Doch noch immer sind vor allem die aus Subsahara-Afrika stammenden Migranten der Willkür der Milizen und Menschenhändler ausgesetzt, denn offiziell sind sie illegal im Land.

Nach Libyen lockte Queen ein Vertrauter der Familie. »Er überzeugte mich davon, dass die Reise sicher sei und es in Europa genügend Arbeit gibt.« In einen mitreisenden Nigerianer verliebte sie sich; »als ich schwanger war, machte er sich aus dem Staub«, sagt sie. Die Schwangerschaft sei in den Camps der Menschenhändler eine gewisse Sicherheit vor den tagtäglichen sexuellen Übergriffen, meint sie. »Ich arbeitete in der Küche von drei Ghettos. Und bekam mit, wie die Vermittler aus den Ländern, aus denen wir herkommen, mit den libyschen Milizen gemeinsame Sache machen. Mir war irgendwann klar, dass ich nicht das Leben meines Kindes in die Hände dieser Verbrecher legen kann.«

Kurz vor der Entbindung rief der Chef des privaten Gefängnisses, in dem Queen einsaß, die Freiwilligen des Roten Halbmondes. Die beiden Sanitäter der libyschen Hilfsorganisation fuhren sie in das Krankenhaus von Zuwara, einer Kleinstadt an der tunesischen Grenze. »Im Krankenhaus habe ich in einer Ecke der Entbindungsstation meinen Sohn praktisch alleine auf die Welt gebracht. Die Schwestern wollten mich nicht anfassen, weil sie mich für schmutzig hielten«, sagt sie.

Wenige Wochen nach der Entbindung stieg Queen aus einem Taxi kurz hinter der Ortschaft Abukamash. Die Fahrt mit vier anderen Migranten hatte sie von dem letzten Geld bezahlt, das sie für ihre Arbeit in der Küche des Camps erhalten hatte. Die Gruppe verschwand in der Böschung der Straße. »Wir gingen die ganze Nacht und orientierten uns an den Lichtern des Grenzübergangs Ras Jadir.« Am nächsten Tag liefen sie einer Streife der tunesischen Grenztruppen in die Arme. »Ich sah das erste Mal freundliche Uniformierte, die uns ins UNHCR-Camp in Zarzis brachten. All die Angst, die ich in Libyen hatte, war wie weggeblasen.«

In diesem Jahr sind so viele Menschen über den Niger oder Sudan nach Tripolis gekommen wie zuletzt 2015. In dem Viertel Gargaresh, das aus Industriegebieten und Villengegenden bestehend, kochte in den letzten Wochen die Stimmung gegen die Zugewanderten hoch. Wegen der großen öffentlichen Unterstützung für die Verhaftungsaktion von Premier Dabaiba trauen sich zurzeit auch die Freiwilligen des Roten Halbmondes nicht, den vor dem UNHCR-Zentrum auf der Straße schlafenden Menschen zu helfen.

Am Montag wurde der 25 Jahre alte Sudanese Amer Abubakr am Eingang des UNHCR-Verteilzentrums von Uniformierten erschossen. Seitdem protestieren bis zu 2000 Menschen aus dem Sudan, Eritrea, Syrien und Bangladesch gegen die Untätigkeit der internationalen Helfer.

Das UNHCR fiel bisher eher durch Falschmeldungen und Passivität auf, als durch die Mobilisierung aller vorhandenen Mittel zur Hilfe der bereits hungernden Menschen. Die Meldung, man gelange wegen der Belagerung des Gebäudes nicht an die Hilfsbedürftigen, sei falsch, erzählt mir der libysche Journalist Ahmed Elumami. Wie andere Medienvertreter besucht auch er die Protestierenden fast täglich. »Sie warten diszipliniert neben dem Tor darauf, dass endlich jemand vom UNHCR mit ihnen spricht«, wundert er sich.

Moussa Barry kennt die Gegend gut, die auf den verwackelten Aufnahmen der protestierenden Migranten zu sehen ist. Er verfolgt das Geschehen in Tripolis aus sicherer Distanz von Malta aus. Mit dem 22-Jährigen habe ich im letzten Jahr in der tunesischen Hafenstadt Zarzis gesprochen. Der jüngste Sohn einer achtköpfigen Familie aus Guinea-Bissau erholte sich damals von den traumatischen Erlebnissen, die ihm in zwei Jahren in Libyen zugestoßen waren.

Sechsmal hatte Moussa es von Tripolis, Zuwara und Al Khoms aus versucht, nach Europa zu gelangen. Jedes Mal stoppte die libysche Küstenwache die Boote mit bis zu 120 Passagieren an Bord. Einmal haben sie schon die Lichter des Hafens von Valetta sehen können, erzählt er. In dem von uns recherchierten Fall war es ein maltesisches Schiff, das die Schiffbrüchigen rettete und sie entgegen der europäischen Vorschriften an die tunesische Küstenwache übergab. In seiner angemieteten Wohnung in Zarzis zeigte er damals auch Aufnahmen von den Vorbereitungen seiner drei Versuche, über den Grenzzaun der spanischen Exklave Melilla zu gelangen. Als auch die Überfahrt mit dem Boot nach Spanien scheiterte, schmuggelten ihn Menschenhändler über die libysche Grenze.

Während Moussa die Haftbedingungen in den Gefängnissen der Milizen in Tripolis und der Hafenstadt Zuwara beschrieb, musste er das Gespräch mehrmals unterbrechen. Die Folter dort hätten nicht alle seiner Zellengenossen überlebt, meinte er. »Dabei glaubte ich bereits 2015 in Mali, das Schlimmste hinter mir zu haben. Damals haben uns mit radikalen Gruppen verbündete Menschenhändler in der Wüste ausgesetzt. Wir mussten uns ausziehen und überall untersuchen lassen.« Der damals 15-Jährige musste wie die anderen Mitreisenden seine Familie anrufen. Erst als diese Lösegeld an die Entführer zahlten, ging die Reise weiter. »An den zahlreichen Western Union Büros entlang der Migrationsroute in Mali und Libyen holen sich die Menschenhändler das Geld. Wenn nichts gekommen ist, geben sie ihre Opfer an bewaffnete Gruppen oder Geschäftsleute ab, für die man umsonst arbeiten muss.«

Die Odyssee, von der Moussa in Zarzis über mehrere Tage berichtete, klingt wie aus einem Horrorfilm. Und doch ähnelt sie dem Schicksal vieler Menschen, die zwischen Tripolis und der tunesischen Grenze auf einen Platz in einem der Boote warten.

In den sechs Monaten, die er in der in der tunesischen Hafenstadt verbrachte, erhielt er keinerlei Hilfe des lokalen UNHCR-Büros. Erst nach der Recherche eines lokalen Journalisten, der auf zurückgehaltene Zahlungen an die aus Libyen geflüchteten Migranten und Flüchtlinge gestoßen war, wurde der Gruppe aus Guinea-Bissau ein Handgeld in Höhe von sieben Euro in der Woche ausgezahlt. Moussa war wegen seiner ruhigen Art so etwas wie der Ansprechpartner für seine 15- bis 18-jährigen Landsleute. »Alle Migranten organisieren sich mit Gleichgesinnten aus ihren Ländern, um auf der Reise zu überleben. Von internationalen Organisationen oder lokalen Behörden fürchten wir uns eher, als dass wir Hilfe erwarten.«

Queen ist noch immer in Zarzis. Hier ist sie zwar vor den Milizen in Sicherheit, aber Bürger zweiter Klasse, denn auch in Tunesien gibt es kein Asylrecht. Einen Flug zurück nach Biafra, so wie es die Internationale Organisation für Migration nahegelegt hat, kommt für sie nicht infrage. »Selbst der Vertreter der nigerianischen Botschaft wollte uns nicht die Hand geben. Für den Staat sind alle aus Biafra Abschaum.«

Zum Glück traf sie auf Emanuel, der auch aus Biafra stammt und eine Libyen-Odyssee hinter sich hat. Er hat Queen und ihren mittlerweile vierjährigen Sohn Michael adoptiert. »Ich würde sie auch heiraten, aber wie soll das gehen hier in Zarzis. Unsere Botschaft gibt uns nicht einmal Reisepässe.«

Emanuel schneidet in einer angemieteten Wohnung anderen Migranten die Haare. Das Geschäft lief bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie gut, so gut, dass der tunesische Vermieter ihn aufforderte zu verschwinden. »Die Leute hier haben Angst, wenn sich zu viele Fremde versammeln«, erzählt Emanuel, der eigentlich Schreiner ist.

Beide wissen nicht, wie es weiter gehen soll. Das Einfachste wäre, zurück nach Zuwara zu gehen und für 200 Euro ein Boot nach Europa zu nehmen. Aber das werden auch die meisten der Gestrandeten in Tripolis machen, glaubt Emanuel. »Viele werden es nicht schaffen. Wir haben immerhin noch unser Leben.«

Auch Moussa denkt, dass sich die Lage der rund 10.000 in Tripolis herumirrenden Menschen schon bald verschlechtern wird. »Die Mehrheit wird in Gefängnissen von Milizen landen und für diese arbeiten müssen. Oder auf Geld von Zuhause hoffen.« Nach Europa werden sie so schnell nicht kommen, ist er sich sicher. Der Wellengang auf dem Mittelmeer wird bald zu hoch für die Überfahrt mit Schlauchbooten sein.

Er selbst will nach mehr als acht Monaten Unterbringung in einem Asylcenter bei Valetta weiter nach Italien. »Ich bin auf der Suche nach einem besseren Leben. Aber ich fürchte, wenn ich das irgendwo in Europa erreicht habe, werden mich die Erinnerungen an Libyen und Mali heimsuchen.«

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