- Kultur
- Buchmesse Frankfurt/Main
Rätselhaft
Die Heidegger-Biografie von Lorenz Jäger ist wichtig für ein kritisches Selbstverständnis der Deutschen
Dieselben Vorwürfe treffen Millionen Deutsche. Insofern stimmt der Titel der großen, jetzt von Lorenz Jäger vorgelegten Biografie: »Heidegger. Ein deutsches Leben«. Die Vorwürfe gegen den einst international sehr wirkmächtigen Philosophen lauten: begeisterter aktiver Anhänger des Nationalsozialismus wenigstens zeitweise gewesen zu sein - und sein vulgär geäußerter Antisemitismus. Er hatte doch jüdische Lehrer und Schüler und vor allem jüdische Geliebte. Dazu später.
• Buch im nd-Shop bestellen
Lorenz Jäger: Heidegger. Ein deutsches Leben.
Rowohlt, 604 S., geb.. 28 €.
Der 1951 geborene Autor ist Soziologe und Germanist, vor allem Journalist bei der »FAZ«. Bis vor neun Jahren rechnete er sich der Neuen Rechten zu. Vor fast 20 Jahren schrieb er eine nicht schmeichelhafte Biografie über Theodor W. Adorno, danach eine kenntnisreiche, wenig empathische Biografie über Walter Benjamin. Jetzt also Martin Heidegger, dem der konservative Autor mehr Verständnis entgegenbringt. Jäger kennt das umfangreiche Werk Heideggers und zitiert - eingebettet in die eigene Erzählung - ausgiebig daraus sowie aus Quellen von Zeitgenossen, Kollegen und Briefpartnern Heideggers. Das Buch ist eine reiche Fundgrube zu Leben und Werk des Gelehrten und erläutert dessen heute schwer verständliche philosophische Prosa für jedermann. Nicht verschwiegen wird dessen verheerende Freiburger Rektoratsantrittsrede von 1933 und seine doch ungebrochene Liebe zu Hannah Arendt.
Was das Publikum von einer so material- und kenntnisreichen Darstellung erwartet, vermag Jäger jedoch nicht einzulösen. Wahrscheinlich kann es keiner. Wie kommt ein so gebildeter und intelligenter Mensch dazu, im Nationalsozialismus die Lösung der Probleme Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg zu sehen? Jäger erklärt diese Entwicklung aus dem Werk Heideggers. Natürlich legt dieser in seinem Hauptwerk »Sein und Zeit« kein Bekenntnis zum damals erst aufkommenden Nationalsozialismus ab, und seine antisemitische Grundierung erscheint anfangs eher marginal. Aber Jäger erweckt den Eindruck, dass alles von Heidegger bis zum Anfang der 30er Jahre Geschriebene und in Vorlesungen und Vorträgen Gesagte zu dem hinführt, was ihm später vorgeworfen werden musste. Der Autor erläutert dies nicht plausibel, hält es vielleicht für normal, eben für »Ein deutsches Leben«.
Vielleicht hat er damit recht - und er erteilt Heidegger auch insofern Absolution, jedenfalls zu seinem Tod am 26. Mai 1976: »Auf dem Nachttisch neben dem Bett lagen ein Band Hölderlin, etwas von Goethe und ein Suhrkamp-Band mit Gedichten von Paul Celan. Der Denker gab den Dichtern das letzte Wort, dem der Griechennähe und dem der jüdischen Existenz. Er war Celan das kommende Wort schuldig geblieben, aber nicht die letzte Geste der letzten Tage.«
Ein großes Verdienst dieser Biografie ist aber die detaillierte Einführung in Heideggers Schriften. Man braucht den Philosophen nicht im Original zu lesen nach den vielen Zitaten. Am besten erschließt sich der Heidegger-Kosmos über qualifizierte Sekundärliteratur. Wie Rüdiger Safranski einmal süffisant und despektierlich bemerkte, schrieb Heidegger über die Banalitäten des menschlichen Alltags in eigenem Vokabular explizit verschroben, »damit auch Philosophen es verstehen«. Safranskis Biografie von vor 20 Jahren trägt den Titel »Ein Meister aus Deutschland« - in Anlehnung an die Zeile in Celans Todesfuge: »Der Tod ist ein Meister aus Deutschland«.
Jäger setzt andere Akzente, ohne das Vorwerfbare zu vertuschen, zu negieren. Er setzt immer wieder zu Kritik an, wenn er beispielsweise ein Treffen Heideggers mit seinem jüdischen Schüler Löwith in Rom im Jahre 1936 erwähnt und aus des Eleven Erinnerung zitiert: »Heidegger trug die ganze Zeit das Parteiabzeichen« - der NSDAP. Oder wenn der Autor die Auseinandersetzung mit der in die Emigration gezwungenen Elisabeth Blochmann beschreibt.
Mit Hannah Arendt war alles anders: Sie fragte ihren Lehrer und Geliebten schon kurz vor ihrer Trennung Mitte der 1920er Jahre nach dessen Antisemitismus. Diese rätselhafteste aller Liebschaften hatte auch noch nach der Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden Bestand.
Jägers Verdienst besteht auch in der an konkreten Beispielen erzählten, kaum zu unterschätzenden Wirkungsgeschichte Heideggers vor allem auf die französische Philosophie, die vielleicht am markantesten mit dem Namen Jean-Paul Sartre verbunden ist. Diese umfangreiche Heidegger-Biografie lässt zwar viele Fragen offen, die aber wohl auch in Zukunft nicht zu beantworten sind. Das Urteil über dessen Leben als »ein deutsches Leben« ist sicher zutreffend und wichtig für ein kritisches historisches Selbstverständnis der Deutschen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.