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Terrier mit Herzschrittmacher

Geschichten aus dem beschädigten Leben: Emma Clines Erzählsammlung »Daddy«

  • Frank Schäfer
  • Lesedauer: 4 Min.

Eine ihrer ersten Short Stories bekommt einen Preis. Der notwendig folgende Debütroman »The Girls«, eine Coming-of-Age-Geschichte im Umkreis einer fiktiven, an die Charles Manson Family erinnernden Kommune beschert ihr einen Millionenvorschuss. Einen mittelgroßen Skandal gibt es natürlich auch, ein Ex-Freund zerrt sie vor Gericht und erhebt Plagiatsvorwürfe. Und jetzt also das zweite Buch mit gesammelten Erzählungen, fast alle erschienen in den renommierten Dickdenker-Magazinen »New Yorker«, »Granta« und »Paris Review«. Emma Clines literarische Blitzkarriere liest sich, als hätte sie jemand strategisch geplant.

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Emma Cline: Daddy. Storys. A. d. Engl. v. Nikolaus Stingl.
Hanser, 256 S., geb., 22 €.

Das ficht die Qualität ihrer Texte überhaupt nicht an. Wie im klassischen Drama liegt das Ereignis, das die Geschichten in Bewegung setzt, in der Vergangenheit. Die mehr oder minder große Katastrophe ist passiert, jetzt müssen die Protagonisten damit leben. Manchmal ahnt man nur, was sie aus der Bahn geworfen hat - Cline erweist sich als Meisterin der Andeutung. Dahinter steckt nicht bloß höfliche Dezenz und narrative Meisterschaft, das hat auch eine psychologische Dimension. Sie erzählt auf Augenhöhe ihrer Figuren, und die erinnern sich nur ungern an das, was ihnen widerfahren ist - oder was sie angerichtet haben.

In der Eröffnungsgeschichte »Was macht man mit einem General« bereitet sich eine kalifornische Allerweltsfamilie auf das Weihnachtsfest vor. Die drei Kinder kommen nach Hause, die Eltern Linda und John entspannen im Whirlpool, eine Wohlstandsidylle, die aber eine düstere Grundierung bekommt durch die Reaktion der Kinder auf den Vater. Cline erzählt aus Johns Perspektive, und man merkt an den vielen kleinen Zurückweisungen und mühsam unterdrückten Aggressionen, dass hier vor vielen Jahren etwas kaputtgegangen ist und dass er es kaputtgemacht hat. Schließlich erinnert er sich an seinen »Zorn«. Er hat randaliert, Essen nach den Kindern geworfen, am Ende stimmt er einer Therapie zu. »Diese Dinge schienen so weit weg, und irgendwann entfernten sie sich noch weiter, und dann redete niemand mehr davon.« Vergessen kann man sie trotzdem nicht.

Das Leitmotiv dieser großartigen Erzählung ist der kranke Terrier Zero, dem man einen Herzschrittmacher eingepflanzt hat, damit er wenigstens Weihnachten noch überlebt. So krank wie ihr Hund ist die Familie, die dennoch um jeden Preis eine Familie zu sein und die Feiertage zu überstehen versucht.

»Daddy«, der Titel dieser Erzählsammlung ist gut gewählt. Tatsächlich spielen in einigen Geschichten dysfunktionale Beziehungen zu Vätern eine Rolle. Ihr moralisches Versagen in der Vergangenheit ist das Substrat, aus dem das aktuelle Dilemma resultiert. Oft sind es abwesende Väter, die für ihre Kinder bezahlen, aber sich aus ihrem Leben verabschiedet haben.

In »Sohn von Friedman« geht ein abgehalfterter Regisseur zur Premiere des ersten Films seines Sohnes. Sie sind sich lange schon fremd. Kein Wunder, sein erfolgreicher Schauspielerfreund hat als Pate die Rolle des Ersatzvaters übernommen, und so spielt auch nur er in den glücklichen Kindheitserinnerungen des Sohnes eine Rolle. In »Northeast Regional« wird der Protagonist zur Hilfe gerufen, weil sein Sohn an einem Elite-College einen Mitschüler auf »perverse« Weise misshandelt hat. Er rettet ihm die Schulkarriere, weil man das als Vater so macht, aber im Grunde war er nie einer.

Cline erhebt keine simplen Vorwürfe. Sie durchleuchtet Beziehungs- und Machtkonstellationen. Es gibt bei ihr auch keine Bösewichte. Sie zeichnet Menschen in voller Lebensgröße und Dreidimensionalität - selbst ein ehemaliger Choleriker wie John aus der ersten Geschichte hat gewinnende Züge. Aber etwas fällt dann doch auf: Mütter spielen als handelnde Figuren keine Rolle. Das geht einher mit einem anderen Missverhältnis in ihren Erzählungen: Frauen besetzen, wenn sie denn überhaupt mal im Mittelpunkt stehen, fast immer die Opferrolle.

In ihrer mit dem Plimpton Prize gekürten Erzählung »Marion« sieht es zunächst anders aus. Das Set ist eine Hippie-Farm, auf der Weed angebaut und viel esoterischer Kokolores geredet wird und wo es entsprechend libertinär zugeht. Die titelgebende Freundin der elfjährigen Ich-Erzählerin ist frühreif und stellt dem verheirateten Kumpel ihres Vaters nach, zieht sich betont aufreizend an und macht Nacktbilder, die schließlich entdeckt werden. Marion schiebt die Schuld auf die Erzählerin, und sie muss die Farm verlassen.

Marions Vater Bobby fährt sie nach Hause zu ihrer kranken Mutter und macht sich auf subtile, mit absurdem Hippie-Gequatsche bemäntelte Weise an sie heran. Damit bekommt das frühsexualisierte Verhalten Marions auf einmal eine andere, toxische Konnotation. Hat sich Bobby an seiner Tochter vergangen? Die Geschichte hat jeden Preis verdient. Wie Cline die schwüle Sommerstimmung sprachlich auskleidet, sie mit symbolischen Nebenhandlungen erotisch auflädt, das verrät die gewiefte Erzählerin. Aber auch hier schwimmt sie genderpolitisch im Juste Milieu. Im Kern ist es eine Geschichte von Inzest und Pädophilie.

Man darf der Autorin nicht vorschreiben, was sie zum Thema machen soll, aber dass sie sich fast nur für problematische Männer interessiert und für Frauen, die ihnen ausgeliefert sind, fällt zumindest auf. Mich würden jetzt ihre Täterinnen interessieren.

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