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Der Mythos vom einzigartigen Scheitern

»Not available«: Ein Buch über legendäre Alben in der Popmusik, die nie oder viel zu spät erschienen

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 5 Min.

Wir schreiben das Jahr 1989. Die Plattenfirma Polydor ist auf Paul Weller und seine Band Style Council nicht allzu gut zu sprechen. Bereits mit dem Album »Confessions Of A Pop Group«, einem aus der Zeit gefallenen Konzertsaal-Epos, hat Weller die Geduld der Labelbosse aufs Äußerste strapaziert. Doch jetzt scheint er völlig übergeschnappt: Mit »Modernism: A New Decade« bringt er eine House-Platte heraus. Das heißt, er bringt sie eben nicht heraus. Denn Polydor stellt sich quer und verweigert die Veröffentlichung. Erst neun Jahre danach, als Teil einer Box, erscheint das Album. Zu spät. Was ’89 zukunftsweisend war, klingt ’98 nur noch retro.

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Daniel Decker: Not Available. Platten, die nicht erschienen sind.
Ventil-Verlag, 248 S., br., 17 €.

Der 39-jährige Musiker und Autor Daniel Decker kennt viele solcher Geschichten. Nicht immer ist der Plattenchef der Bösewicht. Oft sind es die Musiker selbst, die die Notbremse ziehen. Als 1972 die Vorab-Single zu seinem Album »You’re The Man« floppt, zieht Marvin Gaye kurzerhand die fertig produzierte LP zurück. Erst 47 Jahre später - da liegt er bereits Jahrzehnte unter der Erde - kommt das Album auf den Markt. Fans und Kritiker sind zufrieden: Endlich gibt es den fehlenden Baustein zwischen »What’s Going On« und »Let’s Get It On«.

Doch sind solch verspätete Happy Ends nicht die Regel. Deckers Nachschlagewerk »Not Available« trägt seinen Titel zu Recht; viele Alben sind bis heute »nicht verfügbar«. Das macht sein Buch zu einer Enzyklopädie des Scheiterns - zumindest aus Sicht des Hörers. Die Sammlung könnte auch »Hätte, hätte, Fahrradkette« heißen. Man erfährt darin, warum auf George Michaels »Listen Without Prejudice Vol. 1« keine »Vol. 2« folgte. Und wie Kraftwerk nach »Computerwelt« Opfer ihres Perfektionismus wurden und fertige Mixe immer wieder verwarfen - sie, die Avantgardisten der 70er, hatten Angst mit Produktionen der 80er (wie New Orders »Blue Monday«) nicht mithalten zu können. Als schließlich »Electric Café« erschien, hatte das fertige Album mit dem ursprünglich geplanten »Techno Pop« nicht mehr viel gemein. Die Ähnlichkeiten beschränkten sich darauf, dass einzelne Songs als Steinbruch für Neuabmischungen hatten herhalten müssen.

Auch dies ist ein Muster, das wiederkehrt: Einige Stücke oder gar das komplette Werk sind final produziert, aber der Künstler stört sich am Sound. Weil die Ballade »The River« nicht zu den Arrangements und dem Tempo des Albums »The Ties That Bind« passte, verbannte Bruce Springsteen Letzteres ins Archiv, spielte die Songs noch mal neu ein und baute weitere drum herum - fertig war die Doppel-LP »The River«.

Den umgekehrten Weg ging er 1982 bei »Nebraska«, das er in einer rockigeren, opulenteren Version neu aufnahm (die unter Fans den Namen »Electric Nebraska« trägt). Doch das Ergebnis überzeugte ihn nicht; er griff auf die ursprünglichere, rohere Version zurück. Immerhin: Einige der Lieder landeten später auf »Born In The USA«.

Das dürfte den Fans der Beach Boys bekannt vorkommen. Deren Kopf Brian Wilson wurde in den 60ern über der Arbeit an einer »Teenagersymphonie für Gott« wahnsinnig. Erst im neuen Jahrtausend war er in der Lage, das sagenumwobene »Smile« fertigzustellen. In der Zwischenzeit hatten sich die übrigen Beach Boys damit beholfen, einzelne Songs aufzupolieren und auf andere Alben zu verstreuen - Resteverwertung auf höchstem Niveau.

Doch weil es kein vollständiges Album gab, blieb der Mythos jahrzehntelang lebendig. Denn das macht den Reiz der unveröffentlichten Platten aus: Sie lösen das Gefühl aus, etwas Großes, Einzigartiges verpasst zu haben. Warum verwarf David Bowie »The Gouster«, ein Soulalbum, an dem selbst James Brown seine Freude gehabt hätte? Wie hätte die durchwachsene LP »Let It Be« geklungen, wenn die Beatles die ihr zugrunde liegenden »Get Back«-Sessions zum Abschluss gebracht hätten? Wäre Prince’ Dreifachalbum »Camille« noch berauschender gewesen als die auf Drängen der Plattenfirma abgespeckte Version, also die Doppel-LP »Sign O’ The Times«?

Solche Fragen kommen einem beim Lesen von »Not Available« in den Sinn. Eine Sammlung, die gut und gern zehnmal so umfangreich hätte sein können. Künstler und Alben gäbe es noch reichlich. Allein die Legenden, die sich um die zu spät oder nicht veröffentlichten Werke von Prefab Sprout ranken, hätten den Umfang dieses Kompendiums verdoppelt.

Aber es sind nicht die fehlenden Bands und Platten, die einen seltsam traurig stimmen, sondern der Umstand, dass das Buch selbst Ausdruck eines Verlustes ist. Daniel Decker beschreibt eine Welt, die es nicht mehr gibt. Es ist eine Welt, in der Musik einen Wert hatte, und das im ganz konkreten betriebswirtschaftlichen Sinn. Ihre Entstehung erforderte einen massiven Einsatz von Ressourcen. Damit neue Klänge den Zuhörer erreichten, war ein langer und teurer Weg zu bewältigen. Aufnahmestudios mussten gemietet, Tontechniker und Gastmusiker angeheuert werden. In großen Presswerken wurden die erschaffenen Töne dann auf Trägermedien wie Schallplatten oder CDs vervielfältigt, ehe sich Heerscharen von Lastkraftwagen in Bewegung setzten, um das fertige Erzeugnis im ganzen Land zu verteilen.

Diesen aufwendigen Prozess vorzeitig zu beenden, sei es bei der Abmischung, vor der Pressung oder manchmal gar erst unmittelbar vor der Auslieferung, war eine gravierende Entscheidung. Man zerstörte geschaffene Werte und zuweilen auch Karrieren.

Heute, in Zeiten des Homerecordings - der Tonstudios im heimischen Wohnzimmer - und der digitalen Übertragungskanäle (Youtube, Spotify etc.), ist die Erstellung und Verbreitung von Musik ein Klacks. Aus »not available« ist »jederzeit und überall verfügbar« geworden. Mythen erschafft man dadurch keine.

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