• Berlin
  • Rot-Grün-Rot in Berlin

Kann Berlin Paris?

Zu vage, ein schwacher Auftakt bis hin zu »Zerstörungskurs«: Klimainitiativen üben harte Kritik am rot-grün-roten Sondierungspapier

  • Louisa Theresa Braun
  • Lesedauer: 8 Min.

Aktivist*innen der Klimagerechtigkeitsbewegung sind wütend. Nur einen Monat nach dem globalen Klimastreik vor den Wahlen im September versammelten sich am Freitag nach Angaben der Veranstalter*innen rund 3000 Menschen am Brandenburger Tor und zogen durch das Berliner Regierungsviertel, um deutlich zu machen, was die zukünftigen Regierungsparteien in ihren Sondierungen versäumt haben: von einer Vermögensteuer über Mieter*innenschutz und Tempolimit bis hin zum Kohleausstieg vor 2030. Auch am Sondierungspapier der möglicherweise zukünftigen Berliner Koalition von SPD, Grünen und Linke hagelt es von Klimagerechtigkeitsgruppen Kritik. Zwar bekennt sich das Mitte-links-Bündnis »zum Ziel der Klimaneutralität Berlins«. Doch wie das gelingen soll, sei viel zu vage formuliert, sagt Eric Häublein, Sprecher des Bündnisses Kohleausstieg Berlin der Initiative Bürgerbegehren Klimaschutz.

Die im Sondierungspapier genannten Klimaschutzmaßnahmen umfassen Dachbegrünung, Regenwassermanagement, Pflege des Stadtgrüns sowie die Einsetzung eines »Senatsausschusses Klimaschutz«. Doch »für knapp die Hälfte der Berliner Emissionen ist die Wärmeversorgung verantwortlich, die komplett ausgeklammert wurde. So kommen wir nicht auf einen Paris-kompatiblen Pfad«, sagt Häublein. Kohleausstieg Berlin fordere daher ein Gesetz, das die Nutzung fossiler Energien im Wärmenetz der Hauptstadt nach 2035 verbietet - laut einer Studie des Fraunhofer Instituts, die das Bündnis Kohleausstieg zusammen mit Fridays for Future Anfang 2021 in Auftrag gegeben hatte, wäre das auch möglich, wenn der neue Senat sich massive Investitionen in den Aufbau einer erneuerbaren Wärmeversorgung auf die Fahnen beziehungsweise ins Koalitionspapier schreiben würde.

Die Klimagerechtigkeitsgruppe Extinction Rebellion (XR) geht noch einen Schritt weiter und fordert die Reduktion der deutschen Treibhausgase auf Netto-Null bis 2025, »da es dann noch eine Wahrscheinlichkeit von 65 Prozent gäbe, die 1,5-Grad-Grenze einzuhalten«, sagt Nora Schareika von XR. »Deshalb müssen die Emissionen jetzt so schnell wie möglich runter und nicht in irgendeiner fernen Zukunft.« Zurzeit plant Berlins Wärmeversorger Vattenfall jedoch ein neues Gaskraftwerk. »Wenn Vattenfall die notwendigen Investitionen nicht tätigen will, sollte der Senat über einen Rückkauf der Fernwärmenetze verhandeln«, findet Eric Häublein. Als letztes Mittel sollte auch eine Vergesellschaftung des Wärmenetzes in Betracht gezogen werden, »um städtischen Handlungsspielraum zurückzugewinnen«.

Eine wichtige Rolle im rot-grün-roten Sondierungspapier spielt der Wohnungsbau. 20.000 neue Wohnungen sollen demnach pro Jahr neu gebaut werden. Auch das sei emissionsfrei kaum möglich, sagt Veit Burgbacher von Architects for Future. »Es herrscht ein Mechanismus von Abreißen und Neubauen, den man durchbrechen muss«, fordert er. Statt Neubau zu forcieren, solle der Senat lieber Nutzung und Sanierung des Bestands den Vorzug gegen. Leerstand müsse beendet werden. Teilweise lebten Menschen auf viel zu viel Raum. »Einfamilienhäuser werden zum Beispiel einen Großteil ihrer Lebensdauer schlecht genutzt, weil sie mal für fünf Personen geplant wurden, aber die meiste Zeit von viel weniger Menschen bewohnt werden«, so Burgbacher. Daher müsse es Möglichkeiten zur Teilung oder zum Tausch von Wohnraum geben. Auch die zunehmende Versiegelung durch Neubau sei angesichts der Klimafolgen wie Hitze und Starkregen ein Problem. »Grünflächen wie das Tempelhofer Feld spielen eine zentrale Rolle für das Stadtklima«, sagt der Planer. Erhalt und Pflege der Flächen des Berliner Stadtgrüns sind immerhin eines der Ziele von Rot-Grün-Rot.

Auch energetische Sanierungen wurden laut Burgbacher »lange Zeit verschlafen«. Zurzeit liege die Sanierungsrate in der Hauptstadt bei unter einem Prozent pro Jahr; um die Pariser Klimaziele einhalten zu können, seien aber mindestens vier Prozent nötig. »Da muss viel passieren, auch was die Förderung angeht«, findet Burgbacher. Hinzu komme, dass das derzeit geltende Gebäude-Energie-Gesetz nicht mit dem Pariser Abkommen konform sei. Hier sei allerdings eine Gesetzesänderung auf Bundesebene nötig.

Worauf Berlin sehr wohl Einfluss hat, ist der Verkehrssektor, der laut Fahrradclub ADFC noch immer zu rund einem Viertel der klimaschädlichen CO2-Emissionen der Hauptstadt beiträgt. »Prinzipiell geht eine echte Verkehrswende nur mit weniger Autoverkehr«, sagt Nina Noblé, Sprecherin der Initiative Berlin autofrei, die mit einem Volksentscheid den Autoverkehr innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings deutlich reduzieren will. SPD, Grüne und Linke bekennen sich zwar »zum weiteren Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs«, aber von einem 365-Euro-Jahresticket, von Tempo-30-Zonen und autofreien Kiezen ist im Sondierungspapier nichts zu lesen. Stattdessen vom Bau der Straßentangente TVO im Berliner Osten sowie von der Fertigstellung des 16. Bauabschnitts der Stadtautobahn A100. »Das finde ich etwas schwach für den RGR-Auftakt. Der Bau von Schnellstraßen in der Stadt ist absolut rückwärtsgewandt. Wir erwarten, dass die Grünen noch rote Linien ziehen«, sagt Noblé.

Nora Schareika von XR verweist auf die französische Hauptstadt Paris, wo weitgehend Tempo 30 gilt und deren Innenstadt 2022 komplett autofrei werden soll. »Das ist ein leuchtendes Beispiel für die Verkehrswende«, findet sie. In dieser Hinsicht sollte auch »Berlin seiner Vorbildfunktion als Hauptstadt gerecht werden«, unter anderem durch einen günstigeren Nahverkehr, aber auch mehr Fahrradwege und -straßen. Auf Berlins Straßen herrsche derzeit »ein wahnsinniger Kampf«, findet Schareika.

Deshalb ist es für Nina Noblé »keine Lösung«, dass Rot-Grün-Rot in die Ladesäuleninfrastruktur für mehr E-Mobilität investieren möchte, »denn E-Autos nehmen weiter Platz weg und verursachen Unfälle«. Außerdem fürchtet sie, dass mit der »dritten Finanzierungssäule« neben EU- und Bundesmitteln, von der im Sondierungspapier die Rede ist, eine City-Maut gemeint sein könnte. »Das ist kein soziales Mittel, denn dann fahren diejenigen weiter Auto, die es sich leisten können«, sagt sie. Der neue Senat solle stattdessen Möglichkeiten schaffen, dass Menschen nicht mehr auf private Pkws angewiesen sind.

Tobias Trommer vom Aktionsbündnis A100 stoppen schlägt als Alternative zu Privatautos zum Beispiel Car-Sharing-Angebote vor. Zudem fordert er von der zukünftigen Berliner Regierung, für mehr Sicherheit auf Rad- und Fußwegen zu sorgen. Dabei habe die Mitte-links-Koalition in der vergangenen Legislaturperiode »komplett versagt«. Es seien zwar positive Dinge angestoßen worden, wie die Pop-up-Fahrradwege, die autofreie Friedrichstraße oder sogenannte Kiezblocker, die Durchgangsverkehr durch Wohngebiete verhindern. Dennoch gebe es noch viel zu viele Baustellen. Als Beispiel nennt Trommer Wege, die sich Fußgänger*innen und Fahrradfahrer*innen teilen müssen, wie rund ums Ostkreuz. »Das geht gar nicht, gerade für Kinder ist das überhaupt nicht sicher«, sagt er.

Was die Nutzung der bereits für die A100 versiegelte Fläche angeht, verweist Trommer auf alternative Ideen, wie die der Initiative Paper Planes, die den 16. Bauabschnitt zu einer nachhaltigen Gemüsefarm mit Insektenzucht umnutzen will. Oder »man könnte auf der Trasse von Neukölln bis Storkower Straße fast 9000 Wohnungen für über 20 000 Menschen bauen«, sagt Trommer. Minimalforderung seien die Herabstufung von der Autobahn zu einer Stadtstraße sowie der Bau von Lärmschutzwänden. Anstelle der TVO sollten seiner Ansicht nach lieber Bahnverbindungen gebaut werden. Und beim öffentlichen Nahverkehr müsse hinsichtlich der Barrierefreiheit nachgebessert werden, um für »Menschen mit Rollstuhl, Kinderwagen oder Fahrrad sicher nutzbar zu werden. Dazu gehören auch funktionierende Aufzüge mit mehr Kapazität«, so Trommer.

Schließlich vermissen das Bündnis Kohleausstieg und Extinction Rebellion im RGR-Sondierungspapier das Bekenntnis zu einem Klima-Bürger*innenrat. Einen solchen gab es in diesem Jahr bereits auf Bundesebene und SPD, Grüne und FDP, die wahrscheinlich die nächste Bundesregierung stellen werden, haben angekündigt, dieses Instrument fortführen zu wollen. »Erste Pilotprojekte haben gezeigt, dass die Menschen viel weiter sind als die Politik, dass sie die 1,5-Grad-Grenze wollen und vernünftige Entscheidungen treffen«, sagt Nora Schareika von XR. Eric Häublein betont, dass die Einberufung eines Klima-Bürger*innenrates für Berlin eine Forderung der 2020 gestarteten Volksinitiative Klimaneustart war, die von über 30.000 Berliner*innen unterstützt und im April dieses Jahres auch vom Umweltausschuss des Abgeordnetenhauses angenommen wurde. Daher »wundert uns sehr, dass das im Sondierungspapier nicht vorkommt«, sagt er.

Letztlich möchten SPD, Grüne und Linke die Berliner Wirtschaft »in Richtung Klimaneutralität unterstützen« und »nach der Pandemie wieder auf Erfolgskurs« bringen. Auch das sieht Nora Schareika von XR kritisch: »›Wirtschaft auf Erfolgskurs‹ heißt für uns Zerstörungskurs«, sagt sie. Schließlich seien Ressourcen endlich, und unbegrenztes Wirtschaftswachstum funktioniere nicht.

Zumindest an diesem Wochenende werden einige Straßen Berlins nicht den Autos gehören, sondern den Aktivist*innen des Bündnisses Gerechtigkeit Jetzt. Ausgehend vom Klimastreik am Freitag mobilisierte das Bündnis zu Aktionen zivilen Ungehorsams, die diesen Samstag noch weitergehen sollen. Am Sonntag ist dann die Demo »Solidarisch geht anders« für soziale und ökologische Gerechtigkeit geplant. Ziel ist, Druck auf die Koalitionsverhandlungen im Bund sowie in Berlin zu machen - damit deren Ergebnisse aus Perspektive der Bewegung zufriedenstellender sind als die der Sondierungen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.