• Berlin
  • "Gerechtigkeit Jetzt"-Aktionstage

Schluss mit lustig

Vom Klimastreik zur A100-Besetzung – Bewegungsbündnis fordert Gerechtigkeit

  • Louisa Theresa Braun
  • Lesedauer: 4 Min.

Hunderte steigen am Samstagvormittag an der Köllnischen Heide in Neukölln aus der S-Bahn. Zielstrebig laufen sie einen betonierten Pfad hinunter – zur Baustelle der Stadtautobahn A100. Wenige Minuten später haben die Aktivist*innen des Bündnisses Gerechtigkeit Jetzt Erdhügel mit großen Bannern dekoriert. »A100 stoppen«, »Mit Vollgas in die Krise« und »Gemeinsam gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn« steht darauf. Auch Zelte werden aufgeschlagen und farbige Rauchfackeln entzündet. »Wir wollen ein symbolisches Zeichen setzen, dass die Verkehrspolitik Berlins völlig verfehlt ist«, sagt Manon Gerhardt von der Klimagerechtigkeitsgruppe Extinction Rebellion (XR). »Inmitten der Klimakrise dürfen wir nicht weiter Böden versiegeln und Platz für Autos schaffen. Diese A100 ist völliger Irrsinn«, findet sie.

Das ganze Wochenende machte Gerechtigkeit Jetzt anlässlich der Koalitionsverhandlungen im Bund und in Berlin mit Demonstrationen und Aktionen zivilen Ungehorsams auf den nach Ansicht des Bündnisses fehlenden politischen Willen aufmerksam, die sozialen und ökologischen Probleme der Zeit zu lösen. »Ihr lasst uns keine Wahl« ist das Motto der ungehorsamen Aktionen. Dass die planetaren Grenzen ignoriert würden und Wohnraum immer unbezahlbarer werde, zeige, dass demokratische Wahlen von der Politik »nicht im Sinne des Gemeinwohls genutzt werden«, sagt Gerhardt. Die 49-jährige Aktivistin ist seit 2019 bei XR aktiv, weil sie das Konzept überzeugt, gewaltfrei Gesetze zu übertreten, um auf die Schwachstellen der Demokratie hinzuweisen und so das »Gefühl der eigenen Ohnmacht zu überwinden«. Legal zu demonstrieren reicht ihrer Ansicht nach nicht mehr aus.

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In dem breiten Bündnis 30 verschiedener Gruppen, die sich zu Gerechtigkeit Jetzt zusammengeschlossen haben, sei es allerdings sehr schwierig gewesen, in dieser Hinsicht einen Konsens zu finden. So sollte der Klimastreik von Fridays for Future am Freitag, mit dem die Aktionswoche begann, nicht mit Aktionen zivilen Ungehorsams in Verbindung gebracht werden, weil das die Gemeinnützigkeit der teilnehmenden NGOs gefährdet hätte. »Ziviler Ungehorsam braucht aber Risikobereitschaft«, kritisiert Manon Gerhardt. Daher ist sie anfangs noch skeptisch und letztlich positiv überrascht, als es doch gelingt, ausgehend vom Klimastreik die Kreuzung vor der SPD-Zentrale im Willy-Brandt-Haus zu besetzen.

Über 100 Aktivist*innen spalten sich dort von den Teilnehmenden des Klimastreiks ab, setzen sich auf die Kreuzung und breiten ihre Transparente aus. »Schluss mit lustig« steht auf dem von Gerhardt und ihren Mit-»Rebell*innen« von XR, die sich als Clowns verkleidet haben. In ihrem bürgerlichen Leben spielt Gerhardt im Orchester der Deutschen Oper Bratsche; bei der Aktion musiziert sie mit einer kleinen Pfeife. Obwohl sie der Ansicht ist, dass »die Katastrophe längst da ist«, ist ihr wichtig, optimistisch zu bleiben und auch kleine Erfolge zu feiern. Zum Beispiel, dass die wahrscheinlich zukünftige Bundesregierung einen Klima-Bürger*innenrat einführen will, womit auch eine Forderung von Extinction Rebellion erfüllt wird.

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Auch in der Blockade vor der SPD herrscht trotz Regenwetters gute Stimmung. Einige Menschen tanzen, ein Sofa steht auf der Straße, Aktivist*innen der Jungen Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft kommen mit einem kleinen Traktor dazu. »Landwirtschaft ist Care-Arbeit, denn Landwirt*innen versorgen uns mit allem, was uns ernährt. Aber wie jede andere Reproduktionsarbeit wird die Arbeit im landwirtschaftlichen Sektor mies entlohnt, obwohl sie existenziell für uns alle ist«, so eine Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft.

Doch nicht nur vor der SPD-Zentrale, sondern auch bei den Grünen gibt es am Wochenende kleinere Aktionen, zum Beispiel nehmen Aktivist*innen der Tierrechtebewegung Animal Rebellion den Balkon der Grünen-Bundeszentrale in Beschlag. Die meisten Blockaden werden nach wenigen Stunden friedlich wieder beendet.

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Lediglich die Besetzung der A100 wird am frühen Samstagnachmittag von der Polizei geräumt. »Wir wurden eingekesselt, einige Personen mitgenommen oder weggetragen, manche auch geschlagen. Das waren sehr unschöne Vorfälle«, findet Manon Gerhardt. Sie hat, wie ein Teil der Besetzer*innen, ihre Identität von der Polizei feststellen lassen. Wer das verweigerte, wurde in die Gefangenensammelstelle gebracht. Gerhardts Fazit fällt zwiespältig aus. Die Aktion sei nicht gut genug geplant und kein richtiges Ziel festgelegt worden. »Aber es ist ein Erfolg, dass wir mit verschiedenen Bewegungen gemeinsam am Start waren und den Raum erobert haben. Darauf müssen wir jetzt aufbauen und professioneller werden«, sagt sie.

Die »Rebellin« glaubt weiter daran, dass es möglich ist, mit friedlichem zivilen Ungehorsam »verkrustete Zustände über den Haufen zu werfen«. Sie könne sich am Ende des Tages in die Augen blicken und sagen: »Ich habe es versucht«, sagt Gerhardt.

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