Guben: Kleinstadt auferstanden aus Archiven

Ein Verein hat die Wirtschaftsgeschichte der deutsch-polnischen Kleinstadt aufgearbeitet

Vor allem Frauen waren im VEB Chemiefaserwerke Guben beschäftigt – unter ihnen auch aus Polen Angeworbene.
Vor allem Frauen waren im VEB Chemiefaserwerke Guben beschäftigt – unter ihnen auch aus Polen Angeworbene.

Eine Minisalami und Auto-Batterien bringen Auftrieb in der Lausitz. Denn in Guben rollen bereits seit einigen Monaten »Bifis« vom Band und die deutsch-kanadische Firma Rock Tech will ab 2027 Lithiumhydroxid in der Lausitz produzieren – ein wichtiger Bestandteil für die Batterien von Elektro-Autos, wie sie Tesla in der gut 100 Kilometer entferneten Gigafabrik in Grünheide benötigt.

Für die Gubener*innen sind das gute Nachrichten: Denn mit der Salami und den Batterien kommen über 200 neue Arbeitsplätze. Die kann Guben gut gebrauchen. Seit der Wende schrumpft die Stadt an der Neiße, die Sterberate ist höher als die Geburtenrate. Circa 16 000 Menschen leben in Guben, dem deutschen Teil der Stadt. Noch mal so viele sind es in ihrem polnischen Teil, in Gubin. Wie die Deindustrialisierung Ost eine Niederlausitzer Kleinstadt veränderte und warum Baumwoll- und Chemiefasern Guben einst weltbekannt machten, hat ein Verein aufgearbeitet.

»Wer, wenn nicht wir?«, sagt Diethelm Pagel, Vereinsvorsitzender der Gubener Tuche und Chemiefasern e.V. über die Geschichtsarbeit, die er in den letzten 15 Jahren betrieb. Viele Tage habe der gelernte Chemiefaserfacharbeiter im Landeshauptarchiv verbracht, wie er im Gespräch mit »nd« berichtet. Nach der Devise »Kennst du jemanden?« sei er auf Suche nach Zeitzeug*innen gewesen, die zwischen 1964 und 1990 im VEB Chemiefaserwerk Guben (CFG) gearbeitet haben.

Nicht immer einfach sei das gewesen. »Menschen, die aus ihrem Arbeitsprozess gerissen wurden, sprechen tieftraurig über die Wende«, sagt Pagel. Viele Tränen sind geflossen. Der Großteil der Zeitzeug*innen sei nach der Wende aus Guben weggezogen. »Ich habe mit Leuten gesprochen, die seit der Wende auf Sozialleistungen angewiesen sind«. Er spricht von drei Abwanderungswellen aus Guben seit der Wende: Junge Menschen, die gingen, weil sie weder Arbeits- noch Ausbildungsplätze fanden. Ihre Eltern, die den Kindern folgten und eine dritte Welle, bei der die Großeltern gingen, weil sie von ihren Kindern und Enkeln nachgeholt wurden, um gepflegt zu werden.

»Menschen, die aus ihrem Arbeitsprozess gerissen wurden, sprechen tieftraurig über die Wende.«

Diethelm Pagel Vereinsvorsitzender

Heute liegt der Altersdurchschnitt in Guben bei 52 Jahren. In den 1970er Jahren lag er bei 36 Jahren, sagt Pagel. Denn die in DDR-Zeiten nach dem KPD-Mitbegründer Wilhelm Pieck benannte Stadt war ein ostdeutsches Textilzentrum. Grundstein legte die Gubener Tuchmacherei seit dem 16. Jahrhundert und die Herstellung von Wolle in der Niederlausitz. Die Schafzucht an der Neiße und eine besonders sonnenreiche Stadt boten optimale Bedingungen, um Wolle zu produzieren. »Gubener Hüte – weltbekannt durch ihre Güte« hieß es im 19. Jahrhundert. Auch Erich Honeckers Wollfilz-Hut war »made in Guben«.

So auch die Leska-Angelschnur, das Maskottchen »Kopsinchen« und »DeDeRon«. Letztgenannte Wortschöpfung aus »DDR« und der Silbe »on« bezeichnet eine Chemiefaser, die andernorts als Nylon bekannt ist. Hergestellt wurde sie seit 1964 im VEB Chemiefaserwerk Guben. Aus DeDeRon wurde die bekannte DDR-Kittelschürze gefertigt. Die DeDeRon-Produktion schaffte 1990 8000 Arbeitsplätze, nur 400 davon wurden in der BRD übernommen.

Vereinsmitglied Christine Großer erinnert sich gern an ihre Arbeit im Chemiefaserwerk. »Ich konnte arbeiten ohne Sorge«, sagt sie. Das Kind habe man in der volksbetriebseigenen Kita abgegeben, nach der Schicht schnell abholen können. »Nach der Nachtschicht sind wir mit der Brigade und Kindern manchmal an den Deulowitzer See gefahren«, erzählt sie. Das Arbeiten in den Brigaden, einer Art Kollektiv innerhalb des Betriebs, habe ihr gutgetan.

Viele Frauen arbeiteten im VEB Chemiefaserwerk, auch polnische, die gezielt von der DDR angeworben wurden. Großer sagt, polnische Frauen hätten Brigaden mit deutschen Frauen geleitet. Als das Werk 1990 von der Treuhand abgewickelt und privatisiert wurde, waren die 1500 ausländischen Angestellten die ersten, die gehen mussten, erzählt Pagel.

Frei nach der Devise »was kein Geld bringt, brauchen wir nicht«, habe ein österreichischer Investor die betriebseigene Kita geschlossen genauso wie die Poliklinik. Nicht nur die Maschinen, sondern auch die Musterbücher soll er gestohlen und nach Österreich gebracht haben, erzählt Pagel. Darin befinden sich Musterstoffe aus Guben von 1873 bis 1990. Pagel hat die Bücher zurück nach Guben gebracht. Heute sind sie in der Ausstellung des Vereins Gubener Tuche und Chemiefasern zu sehen. Pagel nennt sie einen »Schatz«: Anhand der Stoffe lasse sich Weltgeschichte erzählen. So sind in NS-Zeiten Militärstoffe dominant. Zu DDR-Zeiten, als es schwierig war, an Baumwolle ranzukommen, boomte die Kunstfaser. »Der ideele Wert dieser Bücher ist unschätzbar«, meint der Gubener Diethelm Pagel.

Gasstraße 4, 03172 Guben. Dienstags bis freitags 12 bis 17 Uhr, sonntags 14 bis 17 Uhr, Eintritt 2 Euro

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