• Berlin
  • Hungerstreik vor dem Bundeskanzleramt

Den Gehörlosen Gehör verschaffen

Am Dienstag ist Steffen Helbing den achten Tag im Hungerstreik für mehr Teilhabe

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 4 Min.

Steffen Helbing legt die rechte Hand an sein Kinn und streckt sie dann vor. In der Gebärdensprache heißt das: »Danke!« Der 51-Jährige, der gehörlos zur Welt kam und nach einem Arbeitsunfall im Rollstuhl sitzt, bedankt sich so bei den Menschen, die ihm bei seinem Hungerstreik vor dem Bundeskanzleramt Mut zusprechen. Es sind andere Gehörlose, die von seiner Aktion erfahren haben, oder einfach Passanten, die zufällig vorbeikommen und erfahren möchten, warum er bis Dienstag schon seit acht Tagen kein Essen mehr zu sich nimmt.

Wenn die Menschen die Gebärdensprache nicht verstehen und Dolmetscher Dietmar Rudolph gerade nicht da ist, macht sich Steffen Helbing mit wenigen Worten und einfachen Gesten verständlich. Außerdem kann er auf seine schriftlich formulierten Forderungen verweisen. Die drei Seiten hängen an der behelfsmäßigen Unterkunft aus, in der Helbing übernachtet. »Ich trete in den Hungerstreik, weil ich müde geworden bin«, steht da. Die Teilhabe, also die aktive Beteiligung der Gehörlosen am politischen, sozialen, ökonomischen und gesellschaftlichen Leben, sei »nahezu ausgeschlossen«. Zwar sei das Recht auf Gebärdensprachdolmetscher an vielen Stellen gesetzlich verankert und die Kostenübernahme geregelt – bei einem Arztbesuch bezahlt beispielsweise die Krankenkasse den Dolmetscher. Doch es gebe noch immer viele Bereiche, für die das nicht geregelt sei. »In vielen Fällen sind wir immer noch isoliert«, beklagt Helbing. Obwohl sich beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk einiges verbessert habe, gebe es für Gehörlose bei vielen Fernsehsendungen immer noch Probleme. Besonders liegt dem 51-Jährigen das Schicksal Jugendlicher, die gehörlos sind, am Herzen. Diese bräuchten gleiche Chancen bei der Ausbildung und im Beruf. »Es ist jetzt an der Zeit, dass sich etwas ändert und das sofort«, unterstreicht Helbing.

Seit mehr als 16 Jahren sei er ehrenamtlich aktiv, berichtet er. Er sei Mitglied im Vorstand des Weltverbands der Gehörlosen, Vorsitzender des Landesverbands Berlin-Brandenburg und zweiter Vorsitzender des Zentrums für Kultur und visuelle Kommunikation der Gehörlosen mit Hauptsitz in Potsdam.

Außerdem ist er CDU-Mitglied. Aber: »16 Jahre ist unter Frau Merkel nichts passiert.« Mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) jetzt noch zu reden, bringt wohl auch nichts mehr. Ihre Tage im Amt sind gezählt. Aber Finanzminister Olaf Scholz (SPD), der sich anschickt, in einer Koalition mit FDP und Grünen den Posten Merkels zu übernehmen, der soll kommen und mit ihm sprechen – außerdem Politiker aller anderen im Bundestag vertretenen Parteien, ausgenommen die AfD. »Wenn schriftlich fixiert ist, dass sich etwas ändert, breche ich die Zelte hier ab, vorher nicht«, übersetzt Dietmar Rudolph, was sein Freund und Kollege Helbing eindringlich in Gebärdensprache formuliert.
Bisher habe sich aus der Politik niemand blicken lassen, bedauert Rudolph, der als Kind von gehörlosen Eltern aufgewachsen und mit einer gehörlosen Frau verheiratet ist. Rudolph hätte nicht erwartet, dass Helbing nun schon acht Tage lang vergeblich darauf warten muss. Notfalls wolle Helbing vier Wochen durchhalten.

Noch sieht Helbing recht fit aus und scheint guter Dinge zu sein, fühlt sich aber schlapp, wie er zu verstehen gibt, indem er in seinem Rollstuhl zusammensackt, den Kopf zur Seite legt und die Augen schließt. Wer ihn kennt, sieht, dass er abgenommen hat, wie sein Freund Rudolph sagt. Schon im Oktober 2020 habe der jetzt 51-Jährige angekündigt, in den Hungerstreik zu treten, wenn sich innerhalb eines Jahres nichts ändert. Nun macht er Ernst.

Am Montag kam immerhin Brandenburgs Behindertenbeauftragte Janny Armbruster vorbei. Darüber hat sich Steffen Helbing sehr gefreut. Es sei ein gutes Gespräch mit völliger inhaltlicher Übereinstimmung gewesen. Nur aus Sorge um seine Gesundheit habe Janny Armbruster ihn zu überreden versucht, seinen Hungerstreik abzubrechen. Doch noch will Helbing nicht aufgeben. Von den Gehörlosen und den Passanten, mit denen er sich austauschen konnte, hätten ihm durchweg alle die Daumen gedrückt, ihn moralisch unterstützt, berichtet er. Er hat die Hoffnung, dass sich die Parteien einig werden und die Forderungen der Gehörlosen endlich erfüllen. 80 000 Betroffene leben in Deutschland, weltweit sind es 70 Millionen.

Dass es in den Nächten zuletzt empfindlich kalt geworden ist, kann Helbing nun nicht mehr aufhalten. Am Montag bekam er eine Heizung in seinen Verschlag, in dem ein Bett steht. Auf einem Tisch am Eingang liegt ausgedruckt zum Verteilen seine Erklärung mit den Forderungen der Gehörlosen. Eine Forderung lautet: »Barrierefreie und sichere Fahrt durch alle Bundesländer«. So sollte es bei der Bahn Informationen über Gleisänderungen und Zugausfälle nicht nur per Lautsprecherdurchsage geben, sondern ebenfalls in Gebärdensprache. Die Erklärung endet mit den Worten: »Es ist an der Zeit, uns als gleichwertige und gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft anzusehen. Reißen wir endlich die kommunikativen Barrieren ein.«

Zum Abschied lächelt Helbing, legt die Hand ans Kinn und streckt sie dann aus: »Danke!«

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