Die einzige Konstante ist die Veränderung

Umweltökonom Tim Jackson über Wachstumskritik, Postkapitalismus und den Gang durch den dichten, dunklen Wald

  • Elena Balthesen
  • Lesedauer: 9 Min.

Ihr Buch »Wohlstand ohne Wachstum« gilt vielen als »die Bibel der Wachstumskritik«. Jetzt haben Sie ein neues Buch geschrieben. Was ist anders?
Es gibt dazu eine kleine Geschichte, die das ganz gut beschreibt: Vor einiger Zeit habe ich ein Unternehmen in Sachen Nachhaltigkeit beraten. Am ersten Tag erfuhr ich, dass ein führender Mitarbeiter dort gerade gekündigt hatte, weil er »Wohlstand ohne Wachstum« gelesen hatte. Er hatte, wie er sagte, durch die Lektüre begriffen, dass unsere Wirtschaft tiefgreifende Veränderungen braucht, die er in diesem Unternehmen nicht gesehen hat. In einem Gespräch meinte er dann zu mir, dass ich ein Buch »für alle« schreiben müsse, nicht nur eines für Politiker und Akademiker. Das habe ich versucht.

Sehen Sie das genauso?
Der junge Mann hatte recht. Als ich vor zehn Jahren »Wohlstand ohne Wachstum« schrieb, war ich noch Regierungsberater und vor allem in der akademischen Welt unterwegs. Das hat meine Sicht eingeschränkt, die kreative Seite kam zu kurz. Bei dem neuen Buch hatte ich jetzt die Möglichkeit, das Thema von einer anderen Seite zu beleuchten und besonders in den Dialog mit anderen Menschen zu treten, was ich vorher nicht genug getan hatte.

Tim Jackson
Tim Jackson ist Professor für nachhaltige Entwicklung an der Universität Surrey bei London. Der Physiker und Philosoph leitet zudem das interdisziplinäre Centre for the Understanding of Sustainable Prosperity. Er war Mitglied einer Kommission, die die britischen Labour-Regierungen unter Tony Blair und Gordon Brown in Fragen einer nachhaltigen Entwicklung beriet. Jacksons heftig diskutiertes Buch »Wohlstand ohne Wachstum« von 2009 wurde zum Klassiker der Umwelt- und Klimaökonomie. Darin entwirft er ein ressourcenschonendes Wirtschaftsmodell, das ohne Wachstum auskommt, dafür auf verringerte Arbeitszeiten und Investitionen in öffentliche Güter setzt. Jetzt hat er ein »Update« vorgelegt mit dem Titel »Wie wollen wir leben? Wege aus dem Wachstumswahn« (Oekom-Verlag München). Mit dem 64-Jährigen sprach Elena Balthesen.

Unser kapitalistisches System beruht auf Wachstum. Sie kritisieren, dass das ständige Streben nach Mehr unsere Lebensgrundlage zerstört. Würden Sie sich selbst als Antikapitalisten bezeichnen?
Ehrlich gesagt weiß ich nicht genau, was es heißt, ein Antikapitalist zu sein. Der Untertitel meines Buches lautet daher auch: »Life after capitalism« – Leben nach dem Kapitalismus. Bei der Entstehung von »Wohlstand ohne Wachstum« hätte ich mich wohl nicht als Antikapitalisten bezeichnet, das geht als Regierungsberater schlecht. Wenn man das Wachstum angreift – einen heiligen Gral der Politik – und zusätzlich den gesamten Kapitalismus, macht man sich sehr angreifbar.

Wäre es noch Kapitalismus, wenn man das System so ändern würde, wie Sie es in Ihrem vorherigen Buch beschrieben haben?
Vielleicht. Aber er wäre ganz anders, als wir ihn heute kennen. In meiner Auseinandersetzung mit den systemischen Krisen unserer Zeit habe ich immer mehr das Gefühl, dass die Krisenursachen Kern des Kapitalismus sind. Das neue Buch ist eine direktere Kritik am Kapitalismus, eine Einladung, über das jetzige System hinauszudenken und es eher als ein temporäres Phänomen zu begreifen, das wir überwinden können. Zur nächsten antikapitalistischen Demo hier in London würde ich wahrscheinlich trotzdem nicht gehen. Nicht weil ich nicht mit den Forderungen übereinstimmen würde, sondern weil ich es als meine Rolle sehe, eine kohärente Kritik zu formulieren und damit eine Basis für alles Folgende zu schaffen.

Warum haben aus Ihrer Sicht Menschen so viel Angst vor dem Begriff Antikapitalismus oder auch vor jedweder Kritik an unserem Wirtschaftssystem? Viele gehen ja dann sofort in eine defensive Haltung.
Vielleicht erst mal die positiven Gründe für eine solche Haltung, die ich teilweise gerechtfertigt finde: Manche, nicht alle Menschen haben historisch vom Kapitalismus profitiert – mit einer besseren Lebensqualität, einer höheren Lebenserwartung oder mehr Bildungschancen. Solche Vorteile werden von den Menschen, die den Kapitalismus verteidigen, sehr stark hervorgehoben.
Was man aber auch sehen muss: Der Kapitalismus schützt die Interessen einer privilegierten Minderheit. Eine Kritik daran heißt, diese mächtigen Menschen anzugreifen. Und das bedeutet immer Gegenwehr. Und die wird mit der sozialen Spaltung und der finanziellen und politischen Unsicherheit aktuell immer stärker.

Das Wirtschaftssystem lässt sich nicht von heute auf morgen überwinden. Daher stellt sich die Frage: Kann man die Werkzeuge des Kapitalismus überhaupt gegen Krisen nutzen, zum Beispiel in Form eines CO2-Preises? Oder sollte man lieber eine komplette Neuausrichtung fordern?
Das ist eine schwierige Frage. Ich denke, man braucht beides. Das ist es auch, was ich in meiner Arbeit versuche. Ich berate Unternehmen bei nachhaltigen Geldanlagen, also im kapitalistischen System, obwohl ich dieses System durch meine Arbeit zu ändern versuche. Ich versuche also, mit den Werkzeugen des Kapitalismus die Situation zu verbessern. Und gleichzeitig formuliere ich eine tiefere Kritik am Kapitalismus, weil ich glaube, dass es die braucht, um tiefer greifende Veränderungen zu erreichen.
Was ich aber nicht haltbar finde, ist zu sagen: Reißt die Institutionen des Kapitalismus nieder, und wir starten von Grund auf neu! Dieser Versuch endet meistens in gewalttätigen Revolutionen und humanitären Krisen, die lange anhalten. Es ist eine komplizierte Aufgabe, das System von innen zu verändern, denn am Ende sind wir alle Kapitalisten, sind wir alle Teil des Systems.

Das heißt, die Klimakrise lässt sich im Kapitalismus lösen?
Momentan sind wir alle Kapitalisten. Aber heißt das, dass es so bleiben muss? Meiner Ansicht nach nicht. Die Frage ist doch eher, welche Mechanismen des Systems wir nutzen: Müssen wir in neue Technologien investieren? Ohne Zweifel. Brauchen wir dazu die Finanzierung durch Banken? Wahrscheinlich schon. Aber sollten wir wirklich die Idee ausschließen, dass der Staat selbst das Geld bereitstellen kann, um den gemeinsamen Wohlstand zu finanzieren? Ich denke nicht, und das ist schon ein ziemlich antikapitalistischer Gedanke. Aber das schließt sich gegenseitig nicht aus.
Wir brauchen alle möglichen Hebel. Es ist absolut richtig, mit dem Finanzsektor zu arbeiten, um etwas zu ändern. Falsch wird es, wenn wir Dinge nicht tun, weil wir im Kapitalismus gefangen sind. Wir müssen da ausbrechen, aber das braucht Zeit.

Sie sagten einmal in einem Interview, die Grünen könnten Europas kaputtes System richten. Was meinen Sie damit?
Ich bin kein besonders politischer Mensch. Aber die Politik der Grünen ist näher dran an meinen Vorstellungen als die anderer Parteien in Sachen Umwelt, Sozialpolitik und Wachstumskritik. In Großbritannien gibt es nur eine einzige grüne Abgeordnete – von insgesamt 650. Wenn Sie aus dieser Perspektive auf ein Land wie Deutschland – als Herz von Europa – blicken, in dem es eine Zeit lang tatsächlich die Chance auf eine grüne Kanzlerin gab, dann ist das schon außergewöhnlich. Das hat es ja noch nie gegeben. Eine Kombination aus den Werten der Grünen und der Führungsrolle Deutschlands in der EU würde eine echte progressive Stärke für Europa ergeben.

Bei der Bundestagswahl in Deutschland haben viele junge Menschen die FDP gewählt, die die Lösung der Klimakrise in Innovationen der Wirtschaft sieht. Offenbar glauben gerade junge Menschen an Markt und Wachstum.
Der Glaube an Wachstum ist in unserer Kultur tief verankert. Deshalb überrascht es mich nicht, dass viele junge Menschen an diese Prinzipien glauben. Aber gleichzeitig fangen ja auch viele an, sie anzuzweifeln. Wir leben in einer Welt, die sich schnell verändert.
Junge Menschen befinden sich in einem Bildungsprozess und versuchen sich eine Zukunft auszumalen. Dabei ist es logisch, dass sie sich von dominierenden Meinungen formen lassen und daran glauben, dass Technologie alles lösen wird, solange die Wirtschaft nur wächst. Aber junge Menschen haben auch neue Ideen. Das spiegelt in gewisser Weise mein Gefühl zu grüner Politik wider: Ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit, bis es in einem Land der Welt eine grüne Regierung gibt. Und junge Menschen werden dafür verantwortlich sein. Sie werden die Entscheidungsträger in einem neuen System sein.

Aber können Menschen, die von diesem Glauben an Wachstum geprägt sind, wirklich davon überzeugt werden, dass ewiges Wachstum eben kein Naturgesetz ist?
Das ist ein Prozess, der mit Gesprächen und einer Reflexion darüber beginnt, wer wir sind, wer wir sein wollen und wie wir dahin gekommen sind, wo wir heute sind. Mit meinem Buch will ich Menschen auf einen Weg führen, auf dem sie ihre eigenen Visionen finden können. Es gibt natürlich viele andere Möglichkeiten, auf die Probleme des Kapitalismus aufmerksam zu machen, etwa durch zivilen Ungehorsam und Protest. Es kommt darauf an, was für ein Mensch du bist. Du kannst auch im Finanzsektor arbeiten, um diesen zu verändern, das muss ja auch jemand machen.
Es gibt keine einfache Lösung. Mit »Wie wollen wir leben« habe ich aber versucht, einen Ort zu kreieren, an dem ein Dialog über verschiedene Wege stattfinden kann.

Haben Sie Wege gefunden, die aus dem Wachstumswahn führen?
Meine Analogie dazu ist: Man muss in den dichten, dunklen Wald hineingehen, um die Struktur zu erkennen und den Weg zu sehen. Es ist ein Prozess: erst Konfrontation mit der Dunkelheit, metaphorisch für die Dysfunktionalität des Systems. Wenn wir sie aber verstehen, können wir einen Weg heraus finden. Die Wege, die ich in meinem neuen Buch aufzeige, sind aber keine direkten politischen Vorschläge wie in »Wohlstand ohne Wachstum«, sondern dienen eher als philosophische Orientierungshilfe.

Ist Ihre Arbeit auch manchmal frustrierend? Schließlich schreiben Sie schon sehr lange über Wachstum und Wohlstand – und wir sind nach wie vor im Wachstumswahn verfangen.
Es ist nicht so schwer, auch Veränderung zu sehen. Es war nicht immer alles so, wie es jetzt ist. Vor einem Jahrzehnt hätten wir dieses Gespräch so nicht geführt. Es gab keine Schulstreiks, keine Straßenblockaden, keine Null-Emission-Ziele. Nicht alles wandelt sich so schnell, wie man das möchte. Aber die einzige Konstante, die wir haben, ist die Veränderung. Ein Teil dieses ständigen Prozesses zu sein, hält die Frustration zwar nicht ganz von mir fern, aber es schafft eine Grundlage, um zu handeln. Und das wiederum ist eine gute Grundlage für Hoffnung.

Ist die in den letzten Jahren entstandene Klimabewegung auch ein Hoffnungsträger für Sie?
Ja, sie macht mich hoffnungsvoll, weil ich so etwas noch nie erlebt habe. Was 2019 passiert ist, war außergewöhnlich, es war ein kollektives Aufstehen. Aber ich weiß auch, wie schnell sich Dinge ändern und wie viel noch zu tun ist. Und wie manchmal diese Wellen aus Veränderung, Sorge, Bewegung und Hoffnung, von denen ich schon mehrere erlebt habe – wenn auch noch nie so intensiv wie 2019 –, wieder zurückgehen.
Um auf dem stetigen Weg in eine bessere Welt zu bleiben, darf man sich nicht zu sehr an einer Welle festhalten. Denn diese Bewegungswellen kommen und gehen, sie wachsen und fallen. Der ehrliche Weg ist es, immer weiterzumachen, egal ob die Welle gerade wächst oder fällt.

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