G20 als Datengewinnungsparadies

Vier Jahre nach dem Gipfel in Hamburg: Polizeidatenbank »Schwarzer Block« führt 7578 Beschuldigte und Verdächtigte

  • Gaston Kirsche, Hamburg
  • Lesedauer: 5 Min.

Die »Soko Schwarzer Block«, größte Hamburger Sonderkommission aller Zeiten, wurde nach den Protesten gegen den G20-Gipfel im Juli 2017 in Hamburg aufgebaut. Sie sollte nach Protestierenden fahnden und ermitteln, ob sie Rechtsverstöße begangen hätten. Drei Jahre später wurde sie aufgelöst. Seitdem besteht sie nur noch als verkleinerte Ermittlungsgruppe des Hamburger Staatsschutzes fort. Geblieben ist aber eine immense Datensammlung zur »Unterstützung der polizeilichen Ermittlungsarbeit bei der Strafverfolgung«. Ihr Inhalt wird weitgehend geheimgehalten.

18 sogenannte Crime-Datenbanken gibt es, doch jene mit dem Namen »Schwarzer Block« ist bei weitem die umfangreichste: Sie führt rund 11 000 Personen, darunter 7 578 Beschuldigte und Verdächtigte, gegen die ermittelt wird. Das brachten aber erst zwei parlamentarische Anfragen der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft ans Licht. »Dass diese Soko Daten sammelte, oftmals recht freihändig interpretierte und in rechtlich äußerst fragwürdigen, teils europaweiten Fahndungsaufrufen breit veröffentlichte, ist weder neu noch überraschend«, sagt Johann Heckel von der Roten Hilfe Hamburg. Ähnlich äußert sich auch Deniz Çelik, Abgeordneter und Fachsprecher für Innenpolitik der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft im Gespräch mit »nd«. Und fügt hinzu: »Für eine datenbasierte Polizeiarbeit war der G20-Gipfel ein wahres Datengewinnungsparadies. Allein die über 400 Ingewahrsamnahmen, unzählige Personalienfeststellungen und natürlich auch die fast 100 Terabyte Bildmaterial dürften dafür ein guter Datenlieferant gewesen sein«.

Viel mehr als diese gewaltigen Zahlen wollen Polizei und Innenbehörde nicht über die Datensammlung preisgeben. »Teilweise fließen auch auf polizeiliche Erfahrungswerte gestützte Bewertungen« ein - diese würden jedoch »in der Akte und auch in polizeilichen Datenbanken entsprechend gekennzeichnet« schreibt die Innenbehörde ausweichend in der Antwort auf die parlamentarische Anfrage. Es gehe um 2945 Beschuldigte, davon 1194 durch Festnahme Identifizierte sowie 1057 aus der Bildauswertung mithilfe der Gesichtserkennungssoftware »Videmo 360« Identifizierte und 694 bis jetzt unbekannte Beschuldigte. Zudem 4633 Verdächtige, 170 Kontakt- oder Begleitpersonen, 1089 Geschädigte, 1805 Zeug*innen und Hinweise auf weitere 57 Personen. Beunruhigende Zahlen: Während eine weitere Hamburger Crime-Datenbank, Aurelia, für »linksmotivierte Gewalt« nur 292 Verdächtige oder Beschuldigte führt, sind in der Datei »Schwarzer Block« unter demselben Label also volle 7578 Personen gelistet. Alleine die schiere Zahl der erfassten Personendatensätze steht in keinem Verhältnis dazu, dass der gewalttätige Protest gegen den G20-Gipfel nur von einigen Kleingruppen praktiziert wurde.

Eine Löschung des Datenbergs ist derzeit nicht in Sicht, da der Hamburger Staatsschutz weiterhin forciert gegen Teilnehmende am G20-Protest 2017 ermittelt. »Die Polizei sieht aber die Straftaten im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel als einen zusammenhängenden Komplex an und verschafft sich durch diesen Trick eine enorm lange Speichermöglichkeit«, erläutert Deniz Çelik: »Die Informationen in der Datei sind zur Ausleuchtung von Strukturen und Verbindungen innerhalb der linken Szene für die Polizei Gold wert. Die Polizei wird alles daransetzen, diese Daten möglichst lange verwenden zu können.« Trotz der beiden Anfragen von Deniz Çelik gibt es außer von der Roten Hilfe keinerlei Reaktion auf den Fortbestand des G20-Datenbergs. Der Abgeordnete mahnt: »In den Augen der Sicherheitsbehörden wird man schnell zum ›Linksextremisten‹, auch wenn man nur auf einer kapitalismuskritischen Demo war - wir brauchen daher eine intensivere Auseinandersetzung über die Gefahren polizeilicher Datenverarbeitung.«

Obwohl im Komplex G20-Proteste bereits Anklage gegen 451 Beschuldigte erhoben worden ist, am häufigsten wegen Landfriedensbruch, Sachbeschädigung und Körperverletzung, ist kein Ende der Ermittlungen und Anklagen abzusehen - zumindest gegen Protestierende. Gegen Polizist*innen kam es bis jetzt trotz Anzeigen wegen Ausübung unverhältnismäßiger Gewalt durch Beamte in 169 Fällen in vier Jahren zu keiner einzigen Anklage. Bisher sind laut Polizeidirektor Jan Hieber Ermittlungsverfahren gegen 3000 Demonstrierende eingeleitet. Die Crime-Datenbank zeigt: Es könnten noch mehr als doppelt so viele werden. 83 Teilnehmende einer spontanen Demonstration in der Straße Rondenbarg wissen bereits, dass sie in Gruppenprozessen angeklagt werden, sobald die Corona-Epidemie dies zulässt - das Pilotverfahren vor einer Jugendstrafkammer gegen fünf Minderjährige wurde wegen Corona am 27. Januar 2021 abgebrochen. Wiederaufnahme offen.

Als Folge der europaweiten Fahndung und Ermittlungen durch die Hamburger Polizei wurden am 21. April eine Schweizerin und ein Schweizer vom Bezirksgericht Zürich wegen »Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte« sowie wegen Landfriedensbruchs zu Geldstrafen verurteilt, wie dem Urteil zu entnehmen ist, ein dritter Angeklagter wurde freigesprochen. Die Ermittlungsakten kamen aus Hamburg, kurzzeitig festgenommen wurden die drei im Rahmen einer von Hamburg aus geleiteten Razzia in mehreren europäischen Ländern im Mai 2018. Da die Schweiz ihre Landsleute nicht ausliefert, fand das Verfahren in Zürich statt. Mit Hamburger Akten. Die drei Zürcher waren angeklagt, weil sie bei der spontanen G20-Demonstration im Rondenbarg mitgelaufen waren. Konkrete Taten wurden den drei Beschuldigten nicht vorgeworfen, sie wurden verurteilt, weil sie »Teil der Zusammenrottung« gewesen seien.

»Wir werden jetzt und in Zukunft auch Monate oder Jahre später noch Konsequenzen sehen«, erklärte markig Hamburgs Innensenator Andy Grote, SPD, bereits am 1. Juli 2018 in seiner Ansage kurz vor dem ersten Jahrestag des G20-Gipfels. Der Verfolgungsdruck gegen den G20-Protest bleibe noch lange bestehen: »Das ist eine klare Botschaft an die Szene - Überlegt euch das gut. Und wenn ihr das unbedingt machen wollt, macht lieber einen Bogen um Hamburg.«

Kurz nach dem Gipfel erklärte Kriminaldirektor Jan Hieber, Leiter der Soko Schwarzer Block in Richtung der Protestierenden: »Wir werden viele von euch kriegen. Ganz sicher.« Vor dem G20-Gipfel 2017 hatte Grote angekündigt, dieser werde »ein Festival der Demokratie«, garantiert werde dies durch die Polizeistrategie. Die etwa 1500 durch Polizeigewalt teilweise schwer verletzten Protestierenden sehen dies sicher etwas anders.

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