Es klemmt die Tür zum Wahllokal

Das Wahlrecht muss nicht nur in Sachen Überhangmandate reformiert werden

  • Ralf-Uwe Beck
  • Lesedauer: 4 Min.

Dass in der Bevölkerung die Notwendigkeit für eine Wahlrechtsreform als dringliche Aufgabe gesehen wird, zeigt die große Resonanz auf den Aufruf »Von XXL zurück auf L«. Den hatte der Verein »Mehr Demokratie« unmittelbar nach der Konstituierung des Bundestages gestartet. Einen Tag später hatten ihn bereits 10 000 Menschen unterschrieben. Wieder ist der Bundestag angewachsen: auf 736 Sitze. Gesetzlich vorgesehen sind 598. Es ist die sechste Wahl in Folge, der ein größerer Bundestag folgt; in TV-Nachrichten wurden Handwerker gezeigt, die noch mehr Sessel im Plenarsaal des Bundestages montieren.

Weniger sichtbar sind Defizite, die ebenso dringlich nach einer Wahlrechtsreform verlangen: Auch Ausländerinnen und Ausländer, die schon länger in Deutschland leben, haben kein Wahlrecht. 16- und 17-Jährige, die sich zunehmend politisieren und von denen viele gegen politische Untätigkeit anlaufen, dürfen nicht wählen. Sie aber sind es, die von politischen Entscheidungen oder ihrem Ausbleiben am längsten betroffen sind und die sie, denken wir beispielsweise an die Klimakrise, ausbaden müssen. Es dürften rund acht Millionen Menschen sein, bei denen es kaum plausible Gründe dafür gibt, ihnen das Wahlrecht vorzuenthalten.

In Wahlstatistiken tauchen sie nicht auf. Dabei geht es um ein Menschenrecht, um das demokratische Existenzminimum. Wahlrechtsreformen werden über Parteigrenzen hinweg verhandelt. Es kommt darauf an, dass etwa Linke und Grüne, die das Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer sowie die Absenkung des Wahlalters im Programm haben, dies ebenso zum Kern einer Reform erklären wie das Vermeiden von Überhangmandaten.

Bei der Bundestagswahl im September sind 37 Parteien und Wählergemeinschaften angetreten, die an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert sind. Gewählt wurden sie von etwas mehr als vier Millionen Menschen, die nun nicht im Bundestag repräsentiert sind. Die Sperrklausel soll Regierungsbildungen erleichtern. Aber muss sie dafür bei fünf Prozent liegen? Im Interesse der Wählerinnen und Wähler ist das bestimmt nicht. Die Hürde sollte auf drei Prozent gesenkt werden. Damit wären erheblich weniger Stimmen »verloren«.

Deshalb empfiehlt sich eine Ersatzstimme: Wenn die bevorzugte Partei nicht über die Hürde kommt, würde die zweite Stimme gezählt, die an eine Partei vergeben kann, deren Einzug ins Parlament wahrscheinlicher ist. Mit beiden Ansätzen hätten kleinere Parteien mehr Chancen, in den Bundestag einzuziehen, es würde weniger taktisch gewählt, und der Wählerwille würde sich klarer im Parlament abbilden.

Was aber, wenn Wählerinnen und Wähler gänzlich unzufrieden sind mit dem Angebot der Parteien, wenn ihr Frust ihnen die Lust nimmt, wählen zu gehen? Sie bleiben zu Hause auf dem Sofa sitzen oder wählen extrem. Gut wäre daher die Möglichkeit einer »Proteststimme«, die die Sitzverteilung nicht beeinflusst, die aber mit ausgezählt und deren Ergebnis am Wahlabend bekanntgegeben würde. Das Signal wäre: Wir stehen auf die Demokratie, aber wir haben ein Problem, bitte kümmert euch!

Bleiben noch die leidigen Überhangmandate und der XXL-Bundestag. Abhilfe schaffen könnte folgender Vorschlag: weniger Wahlkreise, etwa 70, in denen aber mehrere Abgeordnete gewählt werden. Wir hätten jede und jeder drei Stimmen und könnten sie Kandidierenden einzeln oder im Bündel oder auch einfach einer Partei geben. So würden 528 Sitze vergeben. Dann gäbe es noch die Parteilisten, über die aber nur 70 Abgeordnete einziehen. 528 plus 70 macht 598.

Solche und andere brauchbare Vorschläge liegen auf dem Tisch. Die werden allerdings so lange nicht greifen, wie die Parteien bei jedem Reformvorschlag zuerst ausrechnen, ob ihnen das mehr oder weniger Stimmen bringt, bevor sie den Daumen heben oder senken. So ist der Bundestag immer größer geworden und der Wille zur Reform kleiner. Jetzt braucht es einen Daumen hoch für eine Wahlrechtsreform, die sich weniger an den Interessen der Parteien und mehr an denen der Wählerinnen und Wähler orientiert. Springt über euren Schatten, Parteien!

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