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- Pablo López Alvarés in Mexiko
Der Staatsfeind
Pablo López Alvarés sitzt in Mexiko wegen eines Streits um Rodungen seit elf Jahren im Gefängnis
Sie wollten nur zum Fluss fahren und Sand holen. Es war Regenzeit und der Boden im Dorf durchweicht. Doch auf der Straße zum Rio Virgen fand die Fahrt von Pablo López Alavés und seiner Familie ein jähes Ende. Ein Kleintransporter versperrte den Weg. Etwa 15 Männer, schwarz gekleidet, mit Tüchern vermummt, liefen auf das Auto von López zu. Sie rissen die Tür auf, zerrten ihn aus dem Pick-up, warfen ihn in ihren Wagen, fesselten ihn und fuhren los. Zurück blieben seine Frau Yolanda Pérez Cruz, die beiden Töchter und ein Enkelkind. »Du bist verhaftet«, sagte einer der Männer. Doch niemand zeigte ihm einen Haftbefehl. »Ich weiß bis heute nicht, wer mich festgenommen hat«, sagt López. »Sie waren jedenfalls schwer bewaffnet.«
Einen Tag später saß López im Gefängnis der Stadt Etla, rund vier Autostunden von seinem Dorf San Isidro Aloapam in der südmexikanischen Sierra Norte entfernt. Auch mehr als elf Jahre nach diesem Überfall vom 15. August 2010 befindet sich López dort hinter Gittern. Seinen Besuch empfängt der kräftige Mann, 52 Jahre, kurze Haare, in der Bibliothek, einem dunklen Raum mit Holzregalen und vielen Büchern. Hier kann er in Ruhe reden. Bleibt es bei der Entscheidung des Gerichts, wird er weitere 20 Jahre in dieser Haftanstalt verbringen. Denn die Vorwürfe gegen den Mann vom Volk der Zapoteken wiegen schwer: Er soll einen Mord begangen haben.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Drei Jahre vor der Festnahme am 18. Juni 2007 kam es nahe seines Heimatdorfs zu schweren Auseinandersetzungen. Bewohner der Nachbargemeinde San Miguel Aloapam waren in das Gebiet von San Isidro Aloapam eingedrungen. »Sie haben uns bewaffnet angegriffen«, sagt López. Seit Jahrzehnten gibt es zwischen den Dörfern Streit, weil die Nachbarn unentwegt Bäume fällen. Die »Kaziken«, wie die Mächtigen in mexikanischen Gemeinden genannt werden, dächten nur ans Geld, kritisiert López. »Die Quellen, das Wasser, die wilden Tiere, die Fauna, das ist ihnen alles egal.«
An jenem Junitag starb einer der Eindringlinge durch eine Schusswaffe. López sowie andere Aktivisten aus San Isidro wurden für den Tod verantwortlich gemacht. »Dafür gibt es aber keine Beweise«, verteidigt sich der Beschuldigte. Er habe damals seit Wochen in einem anderen Dorf als Zimmermann gearbeitet. Die Vorwürfe seien konstruiert. Bellanira López Sánchez von der Menschenrechtsorganisation Consorcio erläutert, die Zeugenaussagen seien widersprüchlich. Alle anderen Beschuldigten hätten mangels Beweisen freigelassen werden müssen, so die Juristin.
Auch die Ombudsstelle für Menschenrechte in dem Bundesstaat Oaxaca entdeckte zahlreiche Ungereimtheiten bei den Ermittlungen, und die UN-Arbeitsgruppe gegen willkürliche Inhaftierungen kam zu dem Schluss, dass der Freiheitsentzug willkürlich sei und López Einsatz als Umweltschützer bestrafen solle. Noch weiter geht Jim Loughram von der internationalen Menschenrechtsorganisation Front Line Defenders: »Der Fall Pablo López verkörpert sinnbildlich die Fehler des mexikanischen Justizsystems: Es ist zu einer Waffe geworden, um Menschenrechtsverteidiger anzugreifen, die die Interessen der Reichen und Mächtigen bedrohen.«
Was hat López getan? Um diese Frage zu beantworten, holt der Mexikaner ein großes Heft aus seiner Tasche. Darin hat er die lange Geschichte des Konflikts festgehalten. Alles begann, bevor er geboren wurde. 1963 erhielt die Papierfabrik Fapatux die Genehmigung, auf dem Land der beiden Gemeinden Holz zu schlagen. In den 1970er Jahren wehrten sich die Einwohnerinnen und Einwohner und hatten Erfolg: Fapatux musste sich zurückziehen, ein von beiden Gemeinden geführtes Unternehmen übernahm die Holzwirtschaft. Auch andere indigene Gemeinschaften in der Sierra Norte nahmen die Verwertung des Waldes selbst in die Hand. Da sich die Zapoteken als Teil der Natur verstehen, die es zu bewahren gilt, gehen sie mit nachhaltigen Konzepten vor. Bis heute leben sie vom Holzverkauf, von der Möbelherstellung und vom Ökotourismus.
Doch in Aloapam standen sich von Anfang an zwei Visionen gegenüber: San Miguel orientierte sich an einer maximalen wirtschaftlichen Ausbeutung des Waldbestandes, San Isidro setzte auf einen nachhaltigen Umgang. »Der Wald als auszubeutende Ressource oder als Lebensraum«, brachte Magaly López Domínguez , Abgeordnete der linken Morena-Partei, den Widerspruch auf den Punkt, als sie die Verurteilung des Umweltschützers im Landesparlament anprangerte.
Für López selbst sind die Holzfäller aus der Nachbargemeinde schlichtweg ein ewig übermächtiger Gegner. San Isidro untersteht der Gemeinde San Miguel. Alle staatlichen Gelder landen im Rathaus von San Miguel und werden nicht immer wie vorgesehen weitergeleitet. Auch die Zusammenarbeit mit höheren Behörden, etwa dem Umweltministerium, dem Finanzamt oder der Polizei, läuft über die mächtigeren Nachbarn. Zudem sind nur die wenigsten in der 700-Seelen-Gemeinde San Isidro des Spanischen mächtig. Die meisten sprechen nur die zapotekische Sprache. Die Kaziken aus San Miguel dagegen stehen in engem Austausch mit den Einflussreichen in der Regierung.
Diese Verhältnisse haben López und seine Leute immer wieder hart zu spüren bekommen. Seit 1995 sind sie von der gemeinsamen Verwertung des Waldes ausgeschlossen. »Das geschah mithilfe der staatlichen Stellen, um unseren Einsatz für die Natur zu behindern«, ist López überzeugt.
Mittlerweile ist wenig geblieben von den großen Baumbeständen rund um das Dorf. In seinem Heft hat López die wichtigsten Zahlen notiert. »Von den 13 000 Hektar Wald beider Gemeinden wurde bereits über die Hälfte zerstört«, sagt er. Der Rio Virgen versiege nun in der Trockenzeit. »Vor 25 Jahre hatte der Fluss das ganze Jahr über Wasser.« Für die Jaguare, Tapire, Affen und Gürteltiere sei das eine Katastrophe. Und für das Ökosystem, das von Nadelbäumen und subtropischen Feuchtwäldern geprägt ist. Schließlich sind die bis über 3000 Meter hohen Berge der Sierra Norte nahe der Landeshauptstadt Oaxaca de Juárez eine der wichtigsten Lungen Mexikos.
»Denen in San Miguel ist das egal, Hauptsache, das Geld fließt«, betont López noch einmal. Der Waldschützer ist davon überzeugt, dass die Behörden mit seinen Kontrahenten gemeinsame Sache machen. Dass diese fragwürdige Kooperation so gut läuft, führen López und Bellanira Sánchez von Consorcio auf gute Kontakte der Kaziken zur Regierung zurück. »San Miguel hatte schon früher enge Beziehungen zum Gouverneur«, erklärt Sánchez.
Von einer kurzen Unterbrechung abgesehen wird der Bundesstaat Oaxaca seit fast 90 Jahren von der Partei der institutionalisierten Revolution (PRI) regiert. Traditionell waren in das System der ehemaligen Staatspartei Politiker, Unternehmen und Militärs ebenso eingebunden wie Gewerkschaften und Bauernorganisationen. Wer kooperierte, wurde vom Staat unterstützt. Wer sich wie einige indigene Gemeinschaften wehrte, musste mit Repressalien rechnen. Mittlerweile hat die PRI zwar politisch an Macht verloren, aber die korrupten Netzwerke bestehen weiter.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Pablo López seine Gegner als ein Konglomerat von Kräften sieht, das vom Rathaus in San Miguel über das Umweltministerium bis zu dem Gericht reicht, das ihn verurteilt hat. Der Aktivist hatte gehofft, dass sich der linke Staatschef Andrés Manuel López Obrador um politische Gefangene wie ihn kümmere. So hatte es der Politiker versprochen. Doch seit er 2018 sein Amt übernahm, hat sich für den Waldschützer nichts geändert. Und auch nicht für den Klimaschutz. »Alles, was mit Umweltschutz und natürlichen Ressourcen zu tun hat, zählt nicht zu den Prioritäten des Präsidenten«, kritisiert Gustavo Alanís, der Leiter des Mexikanischen Zentrums für Umweltrecht (Cemda). Die Klimaziele von Paris, zu denen sich Mexiko verpflichtet hat, seien so nie einzuhalten, erklärt er. Der Onlineplattform »Global Forest Watch« zufolge zählt Mexiko zu den zehn Ländern, in denen am meisten Primärwald zerstört wird.
»Je mehr Bäume gefällt werden, desto stärker ändert sich das Klima,« sagt Pablo López. Wenn er eines Tages das Gefängnis verlässt, will er wieder in sein Dorf zurück. Doch das wird nicht einfach werden. Seine Frau Yolanda Pérez hat San Isidro nach der Verhaftung ihres Mannes verlassen. Seither ist sie kaum mehr dort. Der Weg ist gefährlich, manchmal lauert ihr jemand aus San Miguel auf. »Wenn ich dorthin gehe, werde ich mit dem Tode bedroht«, sagt die Zapotekin.
Heute lebt Pérez in einem Vorort von Etla. Um die Haftanstalt zu erreichen, ist sie eine halbe Stunde mit dem Bus unterwegs. Alles ist anders. Früher lebten sie mit den fünf Kindern von dem, was auf den Feldern wuchs: Mais, Bohnen, Weizen, Kartoffeln. »Wenn es an etwas fehlte, hat Pablo als Zimmermann, Schreiner oder Bäcker gearbeitet«, erzählt die Fünfzigjährige. Dann zeigt sie auf ein neu gebautes Bettgestell aus Holz. »Das hat Pablo geschreinert.«
Seit ihrem 16. Lebensjahr schlägt sie sich mit ihrem Mann gemeinsam durchs Leben. Bis heute. López arbeitet im Gefängnis in der Schreinerei. Sie sorgt dafür, dass er Holz sowie Leim bekommt, und kümmert sich um den Verkauf. Auch einen kleinen Webstuhl hat sie besorgt, damit er Taschen und Hängematten herstellen kann. Aber seit Beginn der Corona-Pandemie kann sie nicht mehr auf die Märkte gehen. Zum Glück sei einer ihrer Söhne aus den USA zurückgekommen. »Das ist eine große Hilfe«, sagt sie.
Früher sprach Yolanda Pérez kein Wort Spanisch, mit politischen Angelegenheiten hatte sie nichts zu tun: »Wir kümmerten uns um die Kleinen, die Männer haben sich getroffen und gekämpft.« Heute berichtet sie in flüssiger spanischer Sprache über den Holzschlag, die Betrügereien der Kaziken und ihre Reise nach Europa. Begleitet von einer Mitarbeiterin von Consorcio traf sie 2019 Abgeordnete im Europaparlament, Berliner Journalistinnen und Menschenrechtsverteidiger. Auf ihrem Handy zeigt sie Fotos von Politikerinnen, die sich für López’ Freilassung aussprechen. »Ich habe die Angst verloren und viel Kraft aus der Reise geschöpft«, sagt sie und lacht.
Pablo López macht sich trotzdem Sorgen um seine Frau. Immer wieder werden in Mexiko Umweltschützer, Menschenrechtsverteidiger sowie deren Angehörige getötet. Zwischen 2011 und 2018 waren es nach Angaben des Umweltrechtzentrums Cemda 68 Personen, seit Ende 2018 bis jetzt 95. Auch die Angriffe auf Yolanda Pérez haben nicht aufgehört. Bürgerinnen und Bürger aus San Miguel Aloapam wollen verhindern, dass das Urteil gegen López aufgehoben wird.
Danach sieht es aber ohnehin nicht aus. »Bei der Überprüfung im November 2020 hat der Richter als Antwort einfach wortwörtlich die Angaben aus den Dokumenten von 2010 kopiert«, erklärt Bellanina Sánchez von Consorcio. Nun wartet López auf die nächste Anhörung. Irgendwann müssen sie seine entlastenden Beweise ernst nehmen, hofft er. Aber das kann dauern, und die Lage wird nicht besser. Seit der Corona-Pandemie empfängt er kaum Besuche, auch seine Frau kommt seltener. »Mir geht es gut«, sagt er am Telefon, »aber die Angst um meine Familie bleibt«.
Wolf-Dieter Vogel hat über Pablo López Alvaréz einen Beitrag in dem von Marc Engelhardt herausgegebenen Sammelband »Die Klimaretter« geschrieben, der soeben im Penguin-Verlag erschienen ist.
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