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Der Laden, der niemandem gehört
Der Kreuzberger Sexshop »Other Nature« wird seit ein paar Monaten von den Mitarbeiter*innen betrieben. Dazu haben sie einen Verein gegründet, der den Laden gekauft hat
Der erste, flüchtige Blick streift kleine, bunte Gegenstände. Ein Spielzeugladen? Ja, kann man so sagen. Im Schaufenster von »Other Nature« am Kreuzberger Mehringdamm finden sich Seile zum Fesseln, Augenbinden, Teppichklopfer, Reitgerten. An einer Wand des alternativen Sexshops reihen sich Dildos in verschiedenen Größen, Farben und Formen.
Die Tür geht auf und Inna Barinberg tritt die drei Stufen herunter, stellt zwei Stühle auf den Gehweg und nimmt die FFP2-Maske ab. Es ist schwül an diesem sommerlichen Montagvormittag. Barinberg arbeitet seit zweieinhalb Jahren bei »Other Nature« und ist Teil des Kollektivs, das den Laden im Frühjahr übernommen hat.
Wie ihr*e Kolleg*in Geza Gothe begreift sich Barinberg als nicht-binäre Person, also weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugehörig. Deshalb verzichten beide auf die Pronomen »er« oder »sie«.
Gegründet wurde »Other Nature« vor zehn Jahren von Sara Rodenhizer und Anne Bonnie, die sich bewusst an Menschen mit unterschiedlichen geschlechtlichen Identitäten und sexuellen Vorlieben richteten. Statt mit stereotypen Rollenbildern zu arbeiten, wollten sie Sexualität als etwas Schönes begreifbar machen, dem alle Menschen mit Neugier begegnen können. »Wir haben uns alle zu dem Laden hingezogen gefühlt, weil er ein sichtbar queerer Ort, aber auch ein Ort für alle ist«, erzählt Inna Barinberg.
Nachdem ihre Kollegin 2013 ausstieg, führte Sara Rodenhizer den Laden alleine weiter. »Am Anfang der Coronakrise aber wurde dann klar: Sie will verkaufen«, erzählt Barinberg. Nach 17 Jahren im Business habe ihre ehemalige Chefin etwas anderes ausprobieren wollen - zumal so einen kleinen Laden zu führen viel von einem fordere, ohne dass viel Geld hängenbleibe.
Die Mitarbeiter*innen wollten als Team bleiben - aber nicht mehr unbedingt für andere Personen arbeiten. Warum also nicht als Kollektiv Verantwortung übernehmen? »Sara hat uns den Laden angeboten. Sie meinte: ›Es ist gut, wenn ihr ihn betreibt, denn ihr macht das eh schon toll‹«, erzählt Barinberg. Kein*e Chef*in, keine Hierarchien, gemeinsame Entscheidungen: Das klang nach einer attraktiven Lösung.
Attraktiv heißt jedoch nicht einfach. Denn zuerst musste der Ladenkauf finanziert werden. Selbst wenn die Mitarbeiter*innen das nötige Kapital aufgebracht hätten: Sie wollten vermeiden, dass sich ihre persönlichen finanziellen Situationen in den Eigentumsverhältnissen des Ladens widerspiegeln. »Ganz am Anfang hatten wir deshalb die Idee, dass wir jedes Jahr einen festen Betrag an Sara zahlen und sich der Laden so von selbst ausbezahlt«, sagt Barinberg. Allerdings hätten sich die Kollektivgründer*innen dann immer noch in einem Abhängigkeitsverhältnis zur früheren Besitzerin befunden - und andersherum auch. Schließlich konnte niemand garantieren, dass der Laden genug erwirtschaften würde. Es brauchte also eine neue Idee. Und Geld.
»Die meisten Kollektive gründen sich erst und werden dann eine GbR. Wir aber waren schon eine GmbH«, sagt Barinberg. Der Unterschied: Eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) ist eine einfache Rechtsform, bei der sich mindestens zwei Gesellschafter*innen zusammentun. Für eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) hingegen braucht es ein Startkapital von mindestens 25 000 Euro. Ein Vorteil: Die Gesellschafter*innen haften bei der GmbH mit diesem Startkapital, nicht mit ihrem privaten Vermögen. Ein Nachteil: Es braucht mindestens eine*n Geschäftsführer*in. Erst einmal übernahmen Barinberg und ein Kollege den Posten. »Tendenziell ist uns dieses Modell aber zu hierarchisch«, sagt das Kollektivmitglied und trinkt einen Schluck Wasser.
An diesem Vormittag knallt die Sonne auf den Asphalt, über den Mehringdamm rumpeln Autos und Transporter, ein junger Mann geht zielstrebig die Stufen zum Sexshop hinauf und kommt kurze Zeit später mit einer Tüte wieder heraus.
Gemeinsam mit einem Berater entwickelte das Kollektiv die Idee, einen Verein zu gründen, der die GmbH kaufen sollte und über den auch das sexualpädagogische Bildungsprogramm läuft. Das Team von »Other Nature« bietet seit Jahren Workshops zu Themen rund um Sexualität, Erotik und Beziehungen an - beispielsweise zu Masturbation, Eifersucht und Beziehung, Bondage oder analen Praktiken. Wenn es die Covid-19-Situation zulässt, sollen auch wieder Toy-Partys angeboten werden. Ähnlich wie bei Tupper-Partys kommen dabei Teammitglieder zu Kund*innen nach Hause und erklären verschiedene Arten von Sexspielzeug.
Die sechs Mitarbeiter*innen und eine weitere Person in Elternzeit gründeten Ende April den Verein. Als Mitglieder entscheiden sie seitdem nach dem Konsensprinzip über alles, was den Laden betrifft - zum Beispiel, wer eingestellt wird oder wie viel Geld jede*r verdient.
Um die Gehälter bezahlen zu können und die Verkaufssumme zu stemmen, über die das Kollektiv nicht öffentlich spricht, hat sich der Verein Geld geliehen - von Freund*innen, Familienmitgliedern und Kund*innen. Den Banken habe das Kollektiv keine Zinsen überlassen wollen, sagt Barinberg. »Direktkredite passen besser zu uns.«
Innerhalb von zwei Monaten kam die nötige Summe zusammen und der Kaufvertrag wurde unterschrieben. Wem der Laden jetzt gehört? »Niemandem. Nur dem Verein«, sagt Barinberg. Keine Privatperson besitze Anteile - so könne auch niemand welche veräußern. »Der Verein könnte theoretisch beschließen, dass der Laden verkauft wird. Aber wir haben ein paar Stolpersteine eingebaut.« Im Vereinsstatut sei festgelegt, dass in diesem Fall der Verkaufserlös in Projekte und Institutionen mit ähnlichen Zielen fließen solle.
Ein*e Kolleg*in streckt den Kopf aus der Tür, fragt etwas. Barinberg entschuldigt sich und geht in den Laden. Dort sitzen drei junge Frauen in dem kleinen hinteren Raum, blättern in Büchern und unterhalten sich auf Französisch.
Hinterm Ladentisch steht Geza Gothe, Mitglied des Kernteams, das in den letzten anderthalb Jahren die Gründung des Kollektivs vorangetrieben hat. »Wir haben uns in dieser Zeit sehr gut kennengelernt. Das war wundervoll«, erzählt Gothe. Anfangs sei es ungewohnt gewesen, ohne Chefin zu arbeiten. Aber langsam sei das Bewusstsein gereift, dass jede*r gleichviel entscheiden darf. »Ich frage eigentlich nicht mehr so viel, ob ich etwas machen kann. Ich mache es einfach.«
Dabei gehe es häufig um Kleinigkeiten, die aber den Alltag verändern. Zum Beispiel laufe normalerweise Musik im Laden. Wenn Gothe keine Lust hat, gehe es inzwischen auch ohne. »Wir hatten früher auch klare Regeln, wie wir mit Kund*innen umgehen. Jetzt experimentiere ich mehr und gucke: Was brauchen sie gerade? Vielleicht möchten manche von ihnen nicht sofort angesprochen werden.« Für Kund*innen sei es möglicherweise herausfordernder, wenn im Laden nicht mehr alles so gleichförmig und glatt wie früher laufe. »Aber vielleicht ist das auch in Ordnung«, sagt Gothe und setzte sich auf einen Stuhl vor die Ladentür.
Das Kollektivmitglied ist Mitte 30, hat erst ein Lehramtsstudium angefangen und sich dann im Kiez als Schülerbetreuer*in engagiert. Im Team von »Other Nature« könnten alle über alles reden - über rassistische Erfahrungen, die Gothe als Person of Color in anderen Jobs gemacht hat, genauso wie über persönliche Probleme. »Wir alle haben immer wieder auch mit unserer Psyche zu tun. Oft aber wird das im beruflichen Kontext versteckt. Egal in welchem Job - bisher musste ich immer einen Teil von mir abschneiden.«
Das bedeutet nicht, dass im Gründungsprozess immer alles harmonisch läuft. Die Debatten brauchen Zeit - und führen zu Konflikten. Im Laufe der letzten arbeitsintensiven Monate ist vor allem das Kernteam eng zusammengewachsen. Da sich wegen familiärer und anderer Verpflichtungen nicht alle Kollektivgründer*innen gleichermaßen einbringen können, entstünden Wissenshierarchien, erzählt Barinberg.
»Eine typische Erfahrung bei Gründungsprozessen«, sagt Elisabeth Voß am Telefon. Die Betriebswirtin berät Kollektivbetriebe und engagiert sich unter anderem beim Netz für Selbstverwaltung und Kooperation Berlin-Brandenburg, einem alternativen Unternehmensverband von Selbstständigen, selbstverwalteten Projekten, Kleinbetrieben und Genossenschaften. »Informelle Hierarchien sind immer ein Thema«, sagt sie. »Das ist nicht per se schlimm. Es ist normal, dass es Leute gibt, die mehr zu sagen haben als andere.« Schließlich hätten die Kollektivmitglieder unterschiedliche Fähigkeiten. Wer sich nicht für Buchhaltung interessiere, müsse sich auch nicht unbedingt mit Zahlen herumschlagen. Weil aber jede*r mitentscheide, sollten alle über die wirtschaftliche Situation des Betriebs Bescheid wissen. Wichtig sei, eine Form der Organisation zu finden, die sich für alle stimmig anfühle. »Das dauert. Es ist nicht so, dass du mit den Fingern schnippst und dann funktioniert alles.«
Dem kollektiven Selbstfindungsprozess Raum zu geben, sei das Wichtigste. »Die Basis ist nicht die Rechtsform oder Geld, sondern die Menschen mit ihren sozialen Beziehungen«, sagt Elisabeth Voß, die auch selbst in einem kollektiven Betrieb gearbeitet hat. Ihrer Erfahrung nach sollten die sozialen Beziehungen regelmäßiges Thema bei Besprechungen sein. »Was unter den Teppich gekehrt wird, das gärt und fliegt dir irgendwann um die Ohren.«
Im Moment beobachtet die Beraterin einen kleinen Aufschwung an Kollektivgründungen. »Ich habe das Gefühl, dass immer mehr jüngere Leute keine Lust mehr auf hierarchische Arbeitsorganisation haben.« Auch bei größeren Unternehmen und in der Start-up-Szene seien flache Hierarchien und die Beteiligung von Mitarbeiter*innen ein großes Thema. »Dort passiert das allerdings häufig vor dem Hintergrund einer noch umfassenderen Ausbeutung«, sagt Voß.
Neben dem Unbehagen gegenüber Hierarchien und Ausbeutung spielten für viele Gründer*innen auch soziale und ökologische Fragen eine Rolle: Wo kommen die Produkte her, die wir verwenden? Inwiefern werden dafür Menschen und Naturräume ausgebeutet?
Während bei Kollektivgründungen in Deutschland meist politische Gründe im Fokus stünden, gehe es beispielsweise in lateinamerikanischen Ländern häufig darum, Betriebsschließungen zu verhindern. Arbeiter*innen übernehmen kollektiv, weil sie Angst vor Arbeitslosigkeit und Armut haben. »Genossenschaften gelten auch als Kinder der Not«, sagt Voß.
Die deutsche Kollektivbewegung hat ihren Ursprung in der 1968er-Bewegung. In den 1970er und 1980er Jahren habe es viele Gründungen gegeben, erzählt Voß. »Damals gab es die RAF, mit Radikalenerlass und Berufsverboten viel Druck auf Linke und kaum Chancen auf Jobs im öffentlichen Sektor. Der war damals ein wichtiger Arbeitgeber, es gab noch nicht so viele soziale Träger wie heute.« Kollektive seien eine Möglichkeit gewesen, Arbeitsplätze zu schaffen - zum Beispiel in selbstverwalteten Buchläden und Druckereien.
Die Genossenschaft sei eine passende Rechtsform für kollektive Betriebe, jedoch wegen Bürokratie und Prüfungspflicht nicht so verbreitet, sagt Voß. Einen Verein als einziger Gesellschafterin einer GmbH wie bei »Other Nature« halte sie für eine gute, weil weniger aufwendige und kostengünstigere Alternative.
Auch die Kreuzberger Kollektivgründer*innen wirken zufrieden. Im Herbst berichtet Inna Barinberg von ihren Fortschritten. Der Verein ist inzwischen eingetragen, die Gemeinnützigkeit beantragt worden. Die Formalitäten laufen, aber hinter den Kulissen gibt es viel zu tun. Wie mit Überstunden umgegangen wird und Konflikte ausgehandelt werden, muss das Kollektiv neben dem Tagesgeschäft entscheiden. So einen kleinen Betrieb könne man nicht einfach mal zwei Wochen zumachen, sagt Barinberg. Die Konkurrenz bei Sexspielzeug sei groß. Nach dem Corona-Tief laufe es glücklicherweise wieder besser. »Wir kommen über die Runden.«
Die Kollektivmitglieder hätten inzwischen mehr Selbstvertrauen und Mut zu eigenen Entscheidungen entwickelt. »Sara war sehr einbeziehend. Wir haben auch früher schon hierarchiearm gearbeitet. Aber am Ende war sie es, die Entscheidungen getroffen hat. Irgendwer musste es ja machen.« Inzwischen sei das anders. »Wir haben jetzt wirklich keine Chefin mehr. Wir können nicht einfach zu einer Person gehen und Probleme abladen. Das ist anstrengend, aber auch schön.«
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