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- Fußball und Fans in Frankreich
Gefangen in der Gewaltspirale
Krawalle im französischen Fußball: Fans, Funktionäre, Politiker, Sicherheitsdienste und Corona tragen dazu bei
Anfang August. Das Warten hat ein Ende. Nach fast zwei Jahren, in denen sie ihre beliebtesten Wohnzimmer nicht betreten durften, kehren die französischen Fans in die Fußballstadien zurück. Die Saison steht unter spannenden Vorzeichen: Schafft es Überraschungsmeister OSC Lille den Titel zu verteidigen? Wird Lionel Messi auch in der Ligue 1 noch ein Riesenstar? Aber nach wenigen Wochen schon bestimmt weniger der sportliche Wettbewerb die Schlagzeilen - und das nicht nur, weil sich der uneinholbare finanzielle Vorteil von Paris St. Germain diesmal auch schnell in der Tabelle widerspiegelt. In den Vordergrund rückt eine neue Welle der Gewalt - an fast jedem Spieltag.
Ein paar Beispiele. 8. August: Olympique Marseille spielt in Montpellier. OM-Stürmer Valentin Rongier bekommt eine Flasche ins Gesicht. Da weitere Gegenstände auch in den Gästeblocks geworfen werden, wird die Partie für einige Minuten unterbrochen. Eine erste Konsequenz: die Kurven der Fans von Montpellier werden für drei Spiele gesperrt. Zwei Wochen später, wieder Südfrankreich, wieder Marseille auswärts, diesmal in Nizza: Als OM-Star Dimitri Payet einen Eckball ausführen will, trifft ihn eine Flasche am Rücken. Der ehemalige Nationalspieler lässt sich nichts anmerken und wirft sie zurück in die Kurve. Die Nizza-Fans reagieren wütend, einige stürmen den Rasen - die Krawalle beginnen: Es wird geprügelt und die Partie abgebrochen.
Auch im Norden Frankreichs knallt es. Sechster Spieltag, Derby zwischen Lens und Lille: Die Gästefans werden angegriffen und schlagen zurück. Dutzende Ultras vom RC Lens stürmen den Platz, die Sicherheitskräfte verhindern Schlimmeres. Lens wird mit zwei Geisterspielen bestraft, nach Lille dürfen bis Jahresende keine Auswärtsfans reisen. Sieben Tage später gibt es wieder einen Platzsturm, diesmal in Angers, wo die einheimischen Ultras von Marseilles Fans angegriffen werden. Am gleichen Spieltag prügeln sich Anhänger von Bordeaux und Montpellier auf der Autobahn. Dann unterbricht die erste Länderspielpause die Saison in der Ligue 1. Es ist Anfang Oktober, und der französische Fußball scheint in einer Gewaltspirale gefangen zu sein.
Neue Stufe der Gewalt? Expertenmeinungen gehen auseinander
Ist diese Situation schlimmer denn je? Gegenüber »nd« geben verschiedene Experten der französischen Fanszene unterschiedliche Antworten darauf. Der Soziologe Nicolas Hourcade meint: »All diese Vorfälle sind wirklich schlimm. Eine solche Situation gab es in den vergangenen zehn Jahren nicht mehr, nachdem 2010 der Plan-Leproux die Ultras von PSG aus dem Prinzenpark verbannt hat.« Philippe Broussard ist etwas anderer Meinung, wenn er sagt, dass es »nichts Neues« gebe. Vor 30 Jahren schrieb der Journalist das Buch »Génération Supporter«, es gilt immer noch als Standardwerk. Er kennt auch die neuesten Entwicklungen in den französischen Fanszenen. »Die Situation in den 90er Jahren war viel gewalttätiger. Insbesondere in Paris, wo der Hooliganismus sehr präsent war, genauso wie damals in Deutschland«, erzählt Broussard dem »nd«. Verändert habe sich, dass jetzt alles gefilmt und im Fernsehen oder im Internet zu sehen sei. »Die heutzutage große mediale Aufmerksamkeit bedeutet nicht, dass der französische Fußball Feuer und Schwefel ist«, meint er.
Für Nicolas Hourcade hingegen ist entscheidend, dass »eine rote Linie überquert wird, wenn sich auf dem Spielfeld geprügelt wird«. Und: Beim Spiel von Angers gegen Marseille hat man gesehen, dass auch die Ultras kleinerer Klubs richtig mitmischen. Gewalt sei also nicht mehr nur eine Sache der Großen, sagt Hourcade. Philippe Broussard gibt ihm nur teilweise recht. »Diese kleinen Gruppierungen versuchen, sichtbar zu werden, besonders wenn ein Klub wie Marseille kommt, dessen Fans glauben, sie seien überall auf erobertem Boden. Aber: Das war schon so, als Englands Hooligans durch Europa reisten. Damals zeigten andere auch Widerstand, um Respekt zu bekommen«, so Broussard.
Auf einen Grund, der die aktuelle Eskalation der Gewalt erklären könnte, können sich Hourcade und Broussard einigen. Er trägt einen berühmten Namen: Coronavirus. »Fast zwei Jahre erlebten die Ultras eine Mangelsituation. Davor gingen sie jedes Wochenende ins Stadion, das war ein wichtiger Teil ihres Lebens, plötzlich mussten sie daheim bleiben«, so Broussard. »Diese Angst auslösende Atmosphäre hat natürlich viel Frustration generiert«, fügt Hourcade hinzu: »Ich denke aber, dass es noch zu früh ist, um das als strukturellen Aspekt zu analysieren. Die Frage, ob die Ultras jetzt gewaltbereiter sind, weil es die französische Gesellschaft im Allgemeinen auch geworden ist, kann man vielleicht erst im Januar oder gar erst am Ende der Saison beantworten. Zur Zeit gibt es etwas weniger Vorfälle. Mal sehen, ob die Situation wieder eskaliert oder nicht.«
Sicherheitsproblem ist auch ein Problem der Sicherheitsdienste
Kilian Valentin will optimistisch bleiben. Der Sprecher der Association Nationale des Supporters, eine Organisation, die 40 Fangruppen aus dem ganzen Land vertritt, unterstreicht, dass es nach der ersten Länderspielpause im Oktober kaum noch Vorfälle gegeben habe. Er bestätigt aber, dass die Pandemie nicht geholfen habe, die Rückkehr der Fans ins Stadion friedlich zu begleiten. »Eine andere Konsequenz dieser zwei Jahre ohne Publikum ist, dass viele Stadionordner einen anderen Job gefunden haben. Einige Klubs haben neue Mitarbeiter zu spät eingestellt, deswegen waren sie nicht gut genug ausgebildet, um ein Fußballspiel zu kontrollieren. Denn das beherrscht man nicht wie eine Supermarktkasse oder einen Konzertraum!« Frankreichs Sportministerin Roxana Maracineanu hat diese Ansicht nach dem Nordderby zwischen Lens und Lille bestätigt: »Es ist die Pflicht der Klubs, die Sicherheit mit ihrer Stadionordnung zu garantieren sowie die Ausbildung von Menschen, die es vielleicht nicht mehr gewohnt sind, dabei zu sein.«
In der Sportzeitung »L’Equipe« bedauerte jüngst Stéphane Boudon, dass es schwieriger geworden sei, Stadionordner zu verpflichten. »Warum sollte man sich die Mühe machen, abends und am Wochenende in einem Stadion zu arbeiten, wenn nicht mal die Fahrkosten übernommen werden und die Atmosphäre in einem Supermarkt ruhiger ist?«, fragte der Präsident einer Security-Gewerkschaft. Nach den Krawallen in Nizza bat das Nachrichtenportal France Info einen Mitarbeiter der Sicherheitsfirma Héraclès die Bilder zu analysieren. Seine Antwort lautete: »Man könnte die Kollegen kritisieren, aber wenn sie nur 40 Euro bekommen und plötzlich 300 Menschen in ihre Richtung rennen, würde ich gerne sehen, wie sie reagieren.«
Eine weitere wichtige Frage ist die nach den Fanbeauftragten. In Nizza fehlte ein solcher Vermittler in der Kurve, der das Werfen von Gegenständen hätte verhindern können. »Seit 2019 sollen alle Klubs einen Fanbeauftragten haben, der auch für solche Einsätze zuständig ist«, erklärt Valentin. Vorher, auch noch 2016, als das Anti-Hooliganismus-Gesetz verabschiedet wurde, hätten manche das Thema zu leicht genommen und beispielsweise einfach ihren Internetverantwortlichen dafür ausgewählt, obwohl ihm die nötigen Fähigkeiten fehlten. »Der Stand der Dinge ist schon besser als früher«, berichtet Valentin.
Zur schlechten Situation haben auch die Repressionen gegenüber Fans beigetragen, allen voran die »interdictions de déplacement« (Umzugsverbote), die Auswärtsfahrten verbieten. »Eines unserer Ziele war, dass die Präfekte ihre Entscheidungen konkret begründen und keine falschen Motive benutzen«, erklärt Valentin. »Wir dachten, das Schlimmste ist vorbei, aber Ende Oktober durften die Sochaux-Fans nicht die 200 Kilometer nach Nancy reisen - wegen Halloween! Wenn die Rivalität der Fangruppen kein Argument ist, sagen sie, dass sie nicht genug Polizeibeamte haben, um die Sicherheit zu garantieren. Wie kann das sein, wenn man es in Deutschland schafft, selbst in der Regionalliga große Auswärtsreisen zu betreuen?« Valentin nennt es die »exception française« - die französische Ausnahme. »Das Problem ist, dass in Frankreich nicht genügend Mittel bereitgestellt werden, damit Fans mit ihrem Verein unter guten Bedingungen reisen können. Das liegt vor allem am mangelnden Verständnis für ihre Leidenschaft.«
Philippe Broussard erinnert daran, was die Ultras seit Langem den Fußballverbänden vorwerfen: »Der fehlende Dialog ist ein typisch französisches Problem«, sagt er. »Es gibt ein Rachegefühl der Fans gegenüber ihren Vereinsführungen und der Liga. Es wurde viel geredet, aber nur über Veränderungen der Anstoßzeiten, um Spiele in China übertragen zu können. Der Kollaps des TV-Rechteinhabers Mediapro Ende 2020 war ein Skandal und ein Zeichen von Inkompetenz. In der gleichen Zeit nutzt aber die Liga Bilder von Pyroshows als Werbung für die Meisterschaft, obwohl Pyrotechnik streng verboten ist.« All das führe zu einem Vertrauensverlust. Und zu Vorfällen in den Stadien. Ein klassischer Teufelskreis oder: gefangen in der Gewaltspirale.
Neue repressive Maßnahmen statt Dialog
Im Oktober nahm Kilian Valentin mit dem nationalen Fanbündnis an einem interministeriellen Meeting teil. »Das war für uns die Möglichkeit, daran zu erinnern, dass schon verschiedene Mittel existieren, um Gewalt einzudämmen. Und dass es nicht nützlich ist, immer neue Repressionsmaßnahmen zu schaffen«, erzählt Valentin. Er nennt als Beispiel personalisierte Karten oder Gesichtsscanner, die schon Anfang 2020 beim FC Metz getestet wurden. Der Klub wurde dafür von Frankreichs Datenschutzbehörde stark kritisiert, dennoch sollen viele Vereine die Einführung derartiger Kameras befürworten. Wie die Politik. Ein Parlamentsbericht empfiehlt Premierminister Jean Castex, dieses Gesichtserkennungssystem noch stärker zu testen - bei der Rugby-WM 2023 und Olympia ein Jahr später. Nicolas Hourcade hat wohl recht, wenn er meint, für ein grundlegendes Fazit zur Gewalt im Fußball müsse man noch etwas warten und die Situation beobachten. Wenn alle Parteien auf ihren Standpunkten beharren, wird es kein gutes.
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