Das wahre Gesicht der EU

Aert van Riel zur Krise an der polnisch-belarussischen Grenze

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 4 Min.

Recep Tayyip Erdoğan weiß, mit welchen Mitteln er westliche Staaten am besten unter Druck setzen kann. Anfang 2020 ließ der türkische Präsident zahlreiche Geflüchtete in Richtung Griechenland weiterziehen. Die meisten von ihnen wurden von griechischen Polizisten mit Gewalt daran gehindert, die Grenze zu überqueren. In der Europäischen Union mag kaum ein Politiker diese schrecklichen Bilder, die zeigen, dass der Staatenverbund keineswegs die Wertegemeinschaft ist, die er zu sein vorgibt. Deswegen arbeiten die EU und ihre Mitgliedstaaten mit Autokraten zusammen, die ihnen die Schutzsuchenden vom Hals halten. Erdoğan ist einer von ihnen und streicht viel Geld dafür ein, dass er Asylsuchende in der Regel bei sich im Land lässt.

Auch Alexander Lukaschenko hat dieses Prinzip verstanden. Der belarussische Staatschef lässt Menschen, die zumeist aus dem Nahen Osten kommen, zu sich ins Land und provoziert seit einiger Zeit an der Grenze zu Polen eine ähnliche Situation wie einst Erdoğan im Südosten des Kontinents. Allerdings kann Lukaschenko nicht auf eine ähnlich freundliche Behandlung wie sein türkischer Amtskollege hoffen. Die EU hat schon lange entschieden, dass der Präsident aus Minsk und seine Regierung durch Sanktionen in die Knie gezwungen werden sollen. Nach dem Willen von Außenminister Heiko Maas steht nun eine Ausweitung der Strafmaßnahmen an. Die desaströse Menschenrechtslage in Belarus und die Inhaftierung von Oppositionellen sind hierfür aber nicht die entscheidenden Gründe. Wenn solche Maßstäbe gelten würden, müsste die EU nämlich auch gegen andere autoritäre Herrscher wie Erdoğan und den ägyptischen Präsidenten Abdelfattah Al-Sisi vorgehen, die kritische Stimmen in ihren Ländern ebenfalls mit Gewalt unterdrücken.

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Vielmehr ist es den westlichen Staatenlenkern ein Dorn im Auge, dass Lukaschenko ein Verbündeter Russlands ist, also des großen geostrategischen Konkurrenten des Westens. Zwar ist das Verhältnis zwischen Minsk und Moskau nicht immer frei von Spannungen, aber im Ernstfall konnte sich Lukaschenko auf die Hilfe des russischen Präsidenten Wladimir Putin verlassen. Das gilt auch für die derzeitige Situation. Fallschirmjäger aus beiden Ländern üben an der Grenze zu Polen. Es handelt sich dabei um Drohgebärden, wie man sie auch vom westlichen Militär kennt, das in den vergangenen Jahren Manöver abgehalten hat, die gegen Russland gerichtet waren.

Europäische Staats- und Regierungschefs haben Lukaschenko unterschätzt. Sie dachten, dass die Protestbewegung nach den umstrittenen Wahlen im Jahr 2020 schnell zu seinem politischen Ende führen würde. Doch so leicht lässt sich Lukaschenko nicht aus seinem Amt entfernen. Die Massendemonstrationen in dem Land sind abgeebbt.

In der Protestbewegung wird sich zwar kaum einer für das Thema interessieren, aber die Vorkommnisse an der polnisch-belarussischen Grenze werfen die Frage auf, ob die Staaten im Westen eine moralische Überlegenheit gegenüber Autokratien wie Belarus für sich in Anspruch nehmen können. Denn auch sie pfeifen zuweilen auf die Menschenrechte. Anstatt den Schutzsuchenden das Recht einzuräumen, Asylanträge zu stellen, werden Grenzanlagen gebaut und Soldaten eingesetzt, um die Menschen davon abzuhalten, Polen und damit das Territorium der EU zu betreten. Diese Abwehrmaßnahmen können dazu führen, dass Menschen nachts erfrieren müssen. Auch die belarussische Seite nimmt den Tod von Schutzsuchenden in Kauf. Für Minsk sind die Betroffenen nur Figuren, die auf einem geopolitischen Schachbrett hin- und hergeschoben werden. Aus europäischer Sicht handelt es sich um Personen, die längere Zeit versorgt werden müssten, also ein zusätzlicher Kostenfaktor sind, und deren Nutzen für das Kapital deswegen fragwürdig ist. Europa zeigt hier sein wahres und hässliches Gesicht.

Viele Flüchtlinge sind aus der Türkei nach Belarus geflogen. Damit ist nach dem Willen der Regierung in Ankara aber nun Schluss. Für die EU ist das ein Erfolg. Wieder einmal präsentiert sich Erdoğan, dem auch freundschaftliche Beziehungen zu Lukaschenko nachgesagt werden, als verlässlicher Partner. Doch das ist trügerisch. Mit ihren Angriffen auf kurdische Gebiete im Irak und in Syrien verletzt die Türkei nicht nur das Völkerrecht, sondern sie schafft auch neue Fluchtgründe.

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