• Politik
  • Flüchtlinge an der polnisch-belarussischen Grenze

»Vor sechs Jahren wäre das nicht denkbar gewesen«

Die Aktivistin Liza Pflaum hat Schutzsuchenden an der polnisch-belarussischen Grenze Winterkleidung und andere Hilfsgüter gebracht

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 8 Min.

Die Lage an der Grenze zwischen Polen und Belarus spitzt sich zu. Es wurde von Schüssen, Verletzten und sogar Todesfällen berichtet. Die Menschen harren bei Minusgraden im Wald aus. Sie waren von Dienstag bis Mittwoch mit dem Bündnis »Mauerfall.jetzt« vor Ort. Was konnten Sie dort beobachten?
Die Lage vor Ort ist sehr angespannt. Selbst konnten wir nicht sehr viel beobachten. Durch die Sperrzone ist in der Grenzregion eine Art Todesstreifen entstanden, wo nicht mehr klar ist, was da drinnen eigentlich passiert.

Todesstreifen ist ein starker Begriff. Wie begründen Sie das?
Die Sperrzone ist ein Gebiet, in der keine Kontrolle von außen mehr stattfinden kann. Und es wird aktiv verhindert, dass Nichtregierungsorganisationen (NGOs) humanitäre Hilfe leisten. Am Donnerstagmorgen habe ich in einer polnischen Zeitung gelesen, dass genau bei dem Grenzübergang, an dem wir waren, ein 14-jähriger Junge gestorben ist. Wenn Leute, die im Wald allein unterwegs sind, erfrieren, werden wir es wahrscheinlich nicht einmal erfahren. Meiner Meinung nach ist das deswegen ein Todesstreifen: Es kommen Menschen ums Leben und das wird auch ganz bewusst in Kauf genommen.

Interview
Liza Pflaum (31) ist Politikwissenschaftlerin und Campaignerin. Sie hat unterschiedliche Bewegungen, NGOs, Stiftungen und Vereine mitgegründet, darunter den Verein United4Rescue, den Stiftungsfond Zivile Seenotrettung und die Bewegung Seebrücke, wo sie hauptamtlich tätig ist. In der vergangenen Woche ist sie mit dem Bündnis »Mauerfall.jetzt« an die Grenzregion zwischen Polen und Belarus gereist. Ulrike Wagener sprach mit ihr über die Sperrzone im Grenzgebiet, Menschen als Waffen und die neue Dimension der Festung Europa.

Sie haben versucht, mit einem Bus in diese Zone hineinzufahren.
Genau. Wir sind in Richtung des polnischen Dorfs Kuźnica gefahren, das liegt direkt an der Grenze zu Belarus. Kurz davor wurde eine Art Checkpoint eingerichtet, wo sehr viel Polizei und Militär stationiert ist. An diesem Checkpoint wurden wir aufgehalten und es gab eine kurze Ansage, dass wir den Ort sofort wieder verlassen müssten. Wir wurden sozusagen zum Umkehren gezwungen. Auch Journalist*innen werden an diesem Checkpoint aufgehalten. So kann nicht über die Lage im Grenzgebiet berichtet werden – und den Menschen, die es in kleinen Zahlen schaffen, die Grenze zu passieren, wird nicht geholfen.

Sie hatten dennoch Hilfsgüter dabei – Winterschuhe, Powerbanks etc. – konnten Sie die überhaupt an die Schutzsuchenden übergeben?
Das konnten wir, weil wir das im Vorfeld in sehr enger Abstimmung mit polnischen Aktivist*innen und Unterstützer*innen geplant hatten. Die haben wir an einem geheimen Ort getroffen und ihnen die Hilfsgüter übergeben.

Und die kommen dann in diese Sperrzone hinein?
Sie versuchen es. Aber sie versuchen auch, fliehende Menschen, die es schaffen, aus der Sperrzone rauszukommen und sich irgendwo im Wald zu verstecken, mit Decken, Powerbanks und Essen zu versorgen. Denn sobald sie von polnischen Sicherheitskräften gefunden werden, werden sie meist zurück nach Belarus gebracht.

Haben Sie mit Menschen gesprochen, die es geschafft haben, auf die polnische Seite zu kommen?
Nein, das war bei dieser Reise auch nicht unser Ziel. Aber wir haben uns lange mit den Aktivist*innen vor Ort unterhalten. Die haben uns zum Beispiel von einer achtköpfigen Familie berichtet, die in der EU Asyl beantragen möchte und schon achtmal wieder zurück auf die andere Seite der Grenze gedrängt wurde.

Man weiß nicht genau, was in dem Gebiet passiert, trotzdem sehen wir viele Bilder. Können Sie einschätzen, inwieweit die Sperrzone für Propaganda verwendet wird?
Ich gehe davon aus das, dieser Raum gezielt für Propaganda verwendet wird. Ich denke das ist auch ein Grund dafür, dass keine Journalist*innen und humanitäre Organisationen zugelassen werden. Einerseits vom belarussischen Militär, in dem gezielte Bilder verbreitet werden, auf denen fast nur Männer zu sehen sind und geflüchtete Menschen als gewalttätig dargestellt werden. Hiermit sollen Ängste geschürt werden, mit denen insbesondere rechte Kräfte seit Jahren arbeiten. Diese Bilder entsprechen aber nicht den Berichten, die wir von Zivilgesellschaft und Aktivist*innen vor Ort bekommen haben. Die sagen, dass sehr viele Familien mit Kindern da sind, dass die Menschen in einer Sackgasse feststecken und es für sie kein Zurück mehr gibt. Auf der anderen Seite bekommt jede Person, die das Grenzgebiet auf der polnischen Seite betritt, eine SMS, in der es heißt: Sie kommen nicht nach Polen rein, hören sie nicht darauf, was das belarussische Militär sagt, die Grenzen sind zu und nehmen sie keine Pillen des belarussischen Militärs. Was das mit den Pillen auf sich hat, keine Ahnung, darüber habe ich bereits gerätselt, ob es hier um echte oder metaphorische Pillen geht.

Ihr Plan war es, auf dem Rückweg Schutzsuchende mit nach Deutschland zu nehmen. Das hat aber nicht geklappt?
Nein, es wurde aktiv verhindert, dass wir Menschen mitnehmen.

Von wem?
Vom polnischen Militär. Aber im Grunde auch von der Bundesregierung. Wir haben letzte Woche Donnerstag an den geschäftsführenden Innenminister Horst Seehofer (CSU) geschrieben und ihn um eine Aufnahmezusage für geflüchtete Menschen von der polnisch-belarussischen Grenze gebeten und keine Antwort erhalten. Es wäre unserer Meinung nach jetzt aber dringend notwendig, dass die deutsche Regierung sich dafür einsetzt, dass Polen Menschen passieren lässt und Deutschland diese aufnimmt. Aber in diese Richtung wird keinerlei Bereitschaft signalisiert – weder von der geschäftsführenden noch von der künftigen Bundesregierung.

Die Stadt München hat zugesagt, Menschen aufnehmen zu wollen. Gibt es solche Signale auch aus anderen Kommunen?
Ja, wir hatten ganz klare Zusagen von München, Berlin und Rottenburg, dass sie Menschen aufnehmen, wenn wir welche im Bus mitnehmen könnten. Darüber hinaus sind wir als Seebrücke seit über drei Jahren im Kontakt mit fast 300 Kommunen, die bereit sind, mehr Geflüchtete aufzunehmen. Es bräuchte jetzt ein strategisches Vorangehen der Bundesregierung, um das möglich zu machen.

In der Vergangenheit gab es zahlreiche Dokumentationen über illegale Zurückweisungen von Schutzsuchenden an EU-Außengrenzen. Bisher fand das eher im Verborgenen statt. Jetzt wird vor aller Augen die Flüchtlingskonvention missachtet. Erleben wir jetzt eine neue Dimension der Festung Europa?
Das würde ich sagen, ja. Die Pushbacks finden an der polnisch-belarussischen Grenze vor den Augen der internationalen Öffentlichkeit statt. Wir haben teilweise Grenzschützer*innen, die in den Nachrichten ganz klar sagen, wie sie mit ihrem Handeln die Menschenrechte brechen. Und – und das ist meiner Meinung nach tatsächlich eine komplett neue Dimension – es wird nicht mehr versucht, das zu vertuschen. Der Rechtsbruch ist kein Skandal mehr, auch nicht hier in Deutschland. Denn eigentlich hätten die Menschen das Recht, einen Antrag auf Asyl zu stellen.

In Gesprächen mit Politiker*innen heißt es oft: Wir müssen die Menschenrechte wahren, und wir müssen unsere Grenzen schützen. Beides gleichzeitig scheint aber nicht zu funktionieren. Was ist Ihr Appell an die Politik?
Ich glaube, man muss wegkommen von der Idee, dass man die Grenzen verteidigen muss. Dort steht uns weder ein bewaffnetes Militär gegenüber, noch eine große Gefahr, sondern Menschen, die Schutz und Hilfe suchen. Vor diesen muss man überhaupt nichts verteidigen. Da muss ein wirkliches Umdenken stattfinden, und dann muss man sich mit den konkreten Problemen beschäftigen: Wie können die Leute herkommen, was sind Möglichkeiten der Einreise, wie werden sie untergebracht, wie finden sie in die Gesellschaft hinein? Da müssen wir Kraft und Energie investieren und nicht darein zu verhindern, dass Menschen kommen. Was wir jetzt an der Grenze zu Belarus sehen, wäre vor sechs Jahren nicht denkbar gewesen. Heute passiert es und niemand ist geschockt. Wir bewegen uns darauf zu, dass nicht mehr davor zurückgeschreckt wird, fliehende Menschen militärisch aufzuhalten. Das heißt, in der Zukunft könnte an den Grenzen auf sie geschossen werden. Das ist genau das, was die AfD 2015 schon indirekt gefordert hat. Und heute sind wir da beinahe angekommen.

Es heißt immer, Europa dürfe sich von Alexander Lukaschenko nicht erpressen lassen. Auch deutsche Politiker*innen und Medien sprechen von »hybrider Kriegsführung«, Flüchtlinge werden als »Waffen« Lukaschenkos bezeichnet. Wie sollte man mit ihm umgehen?
Ich würde ihm das Mittel der Erpressung wegnehmen. Womit versucht er uns zu erpressen? Mit der Tatsache, dass geflüchtete Menschen in Europa als Gefahr gesehen werden. Er lässt die Menschen nicht nach Belarus, weil er ihnen helfen will, sondern weil er weiß, dass die EU genauso reagieren wird, wie sie es jetzt tut. Er will, dass diese Bilder in die Zeitung kommen. Würde die EU sagen: Wir sind Europa, wir stehen zu den Menschenrechten, wir nehmen die Leute auf, hätte er auch keine Macht mehr, irgendwen zu erpressen.

Das wahre Gesicht der EU. Ein Kommentar zur Krise an der
polnisch-belarussischen Grenze

Gäbe es dann den großen Aufschrei, dass jetzt »alle« hierher kommen, ist das nicht die Angst?
Das wird uns oft gesagt, auch auf dem Mittelmeer: Wenn wir den Leuten helfen, kommen alle anderen. Ich glaube, wir müssen einsehen, dass es Migrationsbewegungen immer gab und immer geben wird. Gerade versuchen wir, Migration politisch und militärisch zu verhindern. Das wird aber nicht möglich sein. Es ist höchste Zeit, dass wir uns damit auseinandersetzen, wie eine Welt aussehen könnte, in der sich alle Menschen frei bewegen können und nicht nur Menschen mit deutschem oder europäischem Pass. Hierfür müssen wir anfangen konkrete Ideen und Konzepte zu entwickeln und diese auch erproben.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.