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Rückführung ins Verderben
Verzweifelte Geflüchtete aus Sierra Leone campieren in München, um gegen ihre drohende Abschiebung zu protestieren
Der Karl-Stützel-Platz wirkt trostlos. Unweit des Hauptbahnhofs ziert ein zwölf Meter hoher Metallring das Areal, auf dem eine Schar Tauben sitzt. Den Schotterboden zieren Transparente. »Keine Abschiebung nach Sierra Leone« ist dort zu lesen und - in großen roten Lettern auf weißem Stoff - »Stop Deportation«.
Es sind die Kernbotschaften der Geflüchteten, die seit nunmehr einem Monat in München demonstrieren. »Wir wollen, dass die deutsche Regierung uns hilft«, erklärt einer von ihnen auf Englisch. Mohamed heißt er. Seinen Nachnamen möchte er nicht in der Zeitung lesen. Fünf Jahre sei er schon in Deutschland, »und alles, was sie machen wollen, ist, uns abzuschieben«. Mohamed ist 1992 geboren, sieht aber älter aus als 29. Er wirkt erschöpft und desillusioniert und blickt mit müden Augen unter zwei Mützen hervor, die seinen Kopf vor Wind und Kälte schützen. Um einschlafen zu können, sagt der Geflüchtete, müsse er Medikamente nehmen. Gegen die Panikattacken. Jeden Abend. Man spürt die Verzweiflung des Mannes, nicht nur an Sätzen wie dem folgenden: »Wir würden eher hier sterben, als zurückzugehen nach Sierra Leone.«
In der Zentralen Ausländerbehörde in München-Obersendling nahm Mitte Oktober eine sierra-leonische Delegation ihre Arbeit auf. Innerhalb von knapp drei Wochen wird sie etwa 300 Personen befragen, um herauszufinden, ob die Menschen ohne amtliche Papiere Staatsbürger*innen des kleinen westafrikanischen Küstenstaats sind. Für die Geflüchteten ist klar: Das ist der Anfang vom Ende ihres Lebens in Europa. Zwar haben sie ohne Pässe keine Chance auf eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis in Deutschland, mit den Identitätsdokumenten jedoch droht ihnen die Abschiebung nach Sierra Leone. Denn prinzipiell sind Menschen, deren Asylgesuch abgelehnt wurde, ausreisepflichtig. Weil jedoch nicht abgeschoben werden kann, wenn eine Identität nicht geklärt ist, duldet die Bundesrepublik die Flüchtlinge ohne Ausweisdokumente notgedrungen. Zumindest bislang.
Nach dem Abschluss der Anhörungen dürfte sich das ändern. »Die Klärung der Staatsangehörigkeit ist ein wichtiger Baustein, um letztlich die Ausstellung von Reisedokumenten zu erreichen«, teilt das bayerische Landesamt für Asyl und Rückführungen auf Anfrage mit. Nach Verifizierung des Anhörungsergebnisses durch die sierra-leonischen Behörden erfolge »eine abschließende Identifizierung, welche auf die Ausstellung eines Heimreisedokuments (Passersatzdokuments) hinausläuft«. Dass auch erkrankte Personen von der Polizei zu den Anhörungen gezwungen wurden, wie Geflüchtete berichten, bestreitet das Landesamt hingegen.
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von Claudia Krieg
Doch auch Hamado Dipama vom Münchner Migrationsbeirat hat von solchen Vorfällen gehört. Nicht nur deswegen übt er heftige Kritik an der Anhörungspraxis. Angesichts der Geschichte Deutschlands könne es nicht angehen, »dass die Nationalität von Menschen anhand von Gesichtsform, Aussehen oder Dialekt willkürlich festgelegt wird«. Er hält das für rassistisch.
Flucht vor der Perspektivlosigkeit
Um auf ihre Lage aufmerksam zu machen, haben die Flüchtlinge angefangen, auf öffentlichen Plätzen zu campieren. Zunächst vor der Ausländerbehörde - nach zwei Wochen ging es weiter auf den zentraleren Odeonsplatz und von dort wegen anderer angemeldeter Veranstaltungen wenige Tage später auf den Karl-Stützel-Platz. Hier stehen an diesem Samstagnachmittag vier Zeltpavillons, an einigen Seiten verhängt mit großen Planen in Olivgrün und Orange. Auf dem Boden liegen Matratzen auf Holzpaletten, darauf Kleidung und Schlafsäcke. Einige Geflüchtete sitzen an den davor aufgestellten Bierzelttischen, trinken Tee und unterhalten sich. Insgesamt sind an diesem Nachmittag mehrere Dutzend Menschen im Camp, an anderen Tagen bis zu 200 - angereist aus verschiedenen bayerischen Kommunen.
So wie Mohamed. Eigentlich, erzählt er, wohne er mit seiner Ehefrau und der 11-jährigen Tochter in einer Asylbewerberunterkunft in Geisenhausen im Landkreis Landshut. Doch momentan gehört er zu den 30 bis 50 Männern, die Nacht für Nacht im Camp schlafen. Ihre Frauen und Kinder sind in der Nähe untergekommen, etwa in Wohnungen von Unterstützer*innen, denn in den Sammelunterkünften zu nächtigen, traut sich derzeit niemand. Zu groß ist die Angst vor der Abschiebung.
»Jeder dort leidet«, sagt Mohamed über Sierra Leone. Andere Geflüchtete stimmen ihm zu. Sie erzählen von Vergewaltigungen, Entführungen und Polizeigewalt, zeigen Handyvideos von Demonstrationen unter tränengasgeschwängertem Himmel. Einer der Männer hebt sein Hosenbein an und entblößt eine lange Narbe am Fußgelenk. »Knöchelbruch«, erklärt er. Drei Operationen hatte er, eine Metallplatte wurde ihm eingesetzt. In Sierra Leone wäre das unbezahlbar gewesen. Eine Krankenversicherung gebe es nicht, alles müsse privat finanziert werden. Für arme Menschen mit Knochenbrüchen sei eine Amputation oftmals die einzige Möglichkeit zu genesen. Eine Gesundheitsversorgung existiere in Sierra Leone eben »nur für Reiche«, meint er.
Davon gibt es in dem westafrikanischen Land nicht viele. Die meisten der etwa acht Millionen Einwohner*innen leben in bitterer Armut. Im Wohlstandsindikator der Vereinten Nationen belegt der Staat den 182. Platz - von 189. Anfang November starben in der Hauptstadt Freetown Dutzende Menschen bei der Explosion eines Tanklasters, weil sie versucht hatten, aus dem Fahrzeug, das einen Unfall hatte, auslaufendes Benzin abzuschöpfen.
Dabei ist die ehemalige britische Kolonie reich an fruchtbarem Land und Bodenschätzen wie Bauxit oder Diamanten. Doch während viele Kinder für deren Abbau in Minen arbeiten müssen, sind nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit fast zwei Drittel aller erwerbsfähigen Menschen entweder arbeitslos oder unterbeschäftigt. Hinzu kommen die Folgen des brutalen Bürgerkriegs, der das Land ab 1991 über eine Dekade lang erschütterte und erst 2002 endete, sowie der Mitte der 2010er Jahre wütenden Ebola-Epidemie.
Und dann ist da noch die Sache mit den weiblichen Genitalverstümmelungen: Laut Unicef sind 86 Prozent aller sierra-leonischen Frauen beschnitten. Die Praxis ist dort weitverbreitet, sie gehört zum Initiationsritus, den Mädchen bei ihrer Aufnahme in eine Art Frauengeheimgesellschaft - Bondo genannt - durchlaufen müssen. »Das ist eine normale Tradition«, erklärt Mohamed. Seine Mutter habe eine hohe Position in der Bondo-Gesellschaft ihres Dorfes innegehabt. Als sie vor einigen Jahren gestorben ist, sollte Mohameds Tochter Facima sie ersetzen. Man habe ihm mitgeteilt: »Wenn ich meine Mutter begraben will, muss ich meine Tochter abgeben.« Das sei der Moment gewesen, an dem sich die kleine Familie zur Flucht entschlossen habe. Also ging es über Guinea und Mali per Bus Richtung Mittelmeerküste; in Libyen allerdings mussten sie zunächst ins Gefängnis. 2016 erreicht Mohamed mit Facima erst Sizilien, dann Mailand und schließlich den deutschen Süden, im Jahr darauf folgte auch seine Ehefrau. Damit endet ihre Odyssee - vorläufig.
Kritik an Behördenentscheidungen
Im Protestcamp erzählen die Geflüchteten, dass sie sich von Duldung zu Duldung hangeln: mal für sechs Monate, mal nur für wenige Wochen. Viele durchliefen das Prozedere schon seit Jahren. Ohne Aussicht auf eine Bleibeperspektive. »Dabei wollen wir für unser Geld arbeiten, wir wollen Steuern zahlen«, bekräftigt Mohamed, dessen Tochter hier zur Schule geht. Allerdings erhalten abgelehnte Asylbewerber*innen häufig keine Arbeitserlaubnis. »Das hängt alles an der sogenannten Mitwirkungspflicht«, erklärt Hamado Dipama vom Migrationsbeirat. Trügen Geflüchtete in den Augen des jeweiligen Sachbearbeiters nicht ausreichend zur Klärung ihrer Identität bei, kürze der ihnen eben die Aufenthaltsdauer oder verweigere die Arbeitsgenehmigung - je nach Laune. »Es ist eine totale Willkür«, empört er sich. Katharina Grote vom Bayerischen Flüchtlingsrat ergänzt: »Das kann sich auch in rassistischer Schikane äußern.«
Beide gehen zudem davon aus, dass für die Durchführung der Anhörungen Geld von Deutschland nach Sierra Leone geflossen ist. In der Vergangenheit habe die Bundesrepublik etwa »Fallpauschalen« für zurückgenommene Flüchtlinge an andere Länder entrichtet, berichten sowohl Grote als auch Dipama. Eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums dementiert dies jedoch: »›Fallpauschalen‹ oder Ähnliches werden seitens deutscher Behörden weder für die Identifizierung noch für eine Rückführung gezahlt.« Es gebe keine derartigen Vereinbarungen zwischen den beiden Ländern.
Ob Deal oder nicht - für das Schicksal der Geflüchteten macht das letztlich keinen Unterschied. Wegen ihrer Proteste gegen die Anhörungen rechnen die Menschen im Camp mit Schikanen, sollte Deutschland sie nach Westafrika abschieben. »Dort wandern wir direkt ins Gefängnis«, erzählt ein Flüchtling und zeigt auf einen Mann, der das Camp mit organisiert. »In Sierra Leone hängen seine Bilder - wenn er dorthin zurückmüsste, würde man ihn nie wiedersehen.«
Wenige Tage später zieht das Protestcamp weiter zum Königsplatz. Zwischen den klassizistischen Bauwerken wirken die Zelte etwas verloren. Gleichzeitig aber steigt der Druck auf die deutschen Behörden zunehmend: Immer mehr Menschen solidarisieren sich mit ihnen, einen Aufruf zum Abschiebestopp nach Sierra Leone haben mehr als 15 Organisationen unterzeichnet. Zudem bringt ein Antrag der Stadtratsfraktion von Linke und Die Partei sowie ein offener Brief der Fraktion Die Grünen/Rosa Liste das Thema auf die Agenda der Kommunalpolitik. Und tagtäglich kreuzen im Camp Menschen auf, die heiße Getränke bringen oder bei der Kommunikation mit den Behörden helfen.
Der Kampf der Geflüchteten für eine Bleibeperspektive, so scheint es, ist noch lange nicht vorbei.
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