»Wo ist da noch Literatur?«

Schreiben oder Nicht-Schreiben-Können: Andrej Bitows Prosa aus der Zeit des wieder gefrierenden Tauwetters

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Werk von Andrej Bitow (1937-2018) liegt nahezu vollständig auf Deutsch vor. In Rosemarie Tietze hat der russische Schriftsteller seine ganz eigene Übersetzerin gefunden. Sie kennt nicht nur den Autor, sondern auch sein Zuhause derart gründlich, dass sie dessen postmoderne Hauptwerke »Das Puschkinhaus«, »Mensch in Landschaft« und »Der Symmetrielehrer« sowie die mit großer Empathie geschriebenen »Armenischen Lektionen« und das »Georgische Album« souverän ins Deutsche gebracht hat.

Und dennoch waren kleinere Arbeiten Bitows bislang unberücksichtigt geblieben, darunter die Erzählung »Leben bei windigem Wetter« und das Tagebuch »Um die Ecke«. Beide Werke entstanden 1963, wurden aber wie viele Texte der Sowjetliteratur dieser Zeit »für die Schublade« geschrieben und legten bis zu ihrer Veröffentlichung einen längeren Weg zurück.

»Leben bei windigem Wetter« fand 1967 Aufnahme in den Band »Die Datschensiedlung«, der seine Publikation einem wohlwollenden Vorwort der angesehenen Schriftstellerin Vera Panowa verdankte. Sie würdigte Bitows »leidenschaftliches Interesse für die Innenwelt der Menschen«.

»Um die Ecke« erreichte die Leser mit dem Band »Life in Windy Weather« (Ann Arbor 1986), während die russische Fassung erst 1990 in der Zeitschrift »Nowy mir« erschien.

Ein Grund für die verzögerte Publikation wird deutlich, wenn man einen Blick auf die Biografie des Autors wirft. Bitow wurde in Leningrad in einer Intelligenzlerfamilie geboren. Der Vater war Architekt, die Mutter Juristin. Andrej absolvierte 1962 ein Geologiestudium und arbeitete als Bergbauingenieur an Bohranlagen und unter Tage. 1956 begann er zu schreiben, anfangs Gedichte, als Mitglied eines Literaturzirkels am Bergbauinstitut kurze Prosa. 1963 konnte er sein erstes Buch veröffentlichen: »Der große Luftballon«, 200 Seiten über das scharf beobachtete alltägliche Leben einfacher Menschen. Viele seiner Texte dieser Zeit aber wurden voreingenommen kritisiert, noch mehr grob abgelehnt.

»Leben bei windigem Wetter« schrieb Bitow im Juni 1963 auf der Datscha seiner Schwiegereltern. Es begann mit einer Schreibblockade. Zwar schienen das luftige Obergeschoss des Hauses und die ungewohnte Fülle an freier Zeit für die Arbeit ideal zu sein, doch die quälenden Gedanken an die unfreundliche Kritik, Spannungen im Verhältnis zu seiner Frau und selbst die Gegenwart seines einjährigen Sohnes lähmten jeden schöpferischen Gedanken. Ein Aphorismus Tschechows über Schreiben und Nicht-Schreiben-Können soll die Blockade schließlich gelöst haben. Es entstand einer der intimsten Texte Bitows. Nicht nur weil seine Frau, sein Sohn, einige Verwandte und Leningrader Bekannte zu den Protagonisten gehören, sondern weil das Hauptthema des metapoetischen Textes seine Schreibprobleme sind.

Von starker Symbolkraft ist die Szene, in der Sergej (wie hier das Autoren-Ich heißt) seinen Sohn im Kinderwagen »wie durch ein riesiges Abc-Buch« durch die Siedlung fährt und das tut, was ein Schriftsteller macht, nämlich ihm die Welt erklärt: »Da, ein Baum, da, ein Junge, da, ein Haus.«

Den Anstoß zum Tagebuch »Um die Ecke« lieferte Ossip Mandelstams Essay »Vierte Prosa« von 1929/30, der in der Sowjetunion nie erschien. Jemand hatte Bitow für eine Nacht eine Abschrift überlassen. Er fertigte eine Kopie an und orientierte sich an den Sätzen: »Sämtliche Werke der Weltliteratur teile ich ein in genehmigte und solche, die ohne Genehmigung geschrieben wurden ... Den Schriftstellern, die im voraus genehmigte Dinge schreiben, möchte ich ins Gesicht spucken ...«

Niedergeschrieben wurde »Um die Ecke« vom 18. Juni bis zum 27. Oktober 1963, in einer Phase des wieder gefrierenden Tauwetters, die der empfindsame Autor mit allen Sinnen spürte. Er bezeichnete den Text als »Tagebuch eines Einzelkämpfers« und traf damit seine ideologische Zielstellung exakt. Ein Traum am Anfang verdeutlicht sie. Er versetzt den Leser in einen »Saal« oder »Keller«, wo eine Schriftstellerversammlung »mit ideologischem Charakter« stattfindet. Sergej, der zunächst weitab vom Präsidium steht, wird plötzlich aufs Podium gerufen, um sich »zu erklären«. Nicht was er stammelt (absurde Sätze über die Schriftsteller Babajewski und Axjonow) ist wichtig, eher seine Frage: »Wo ist da noch Literatur?«

»Um die Ecke« handelt von der Kraft der Fantasie, Wahrheit und Lüge, Leben und Tod. Gespräche mit Freunden geben dem Autor Anlass, über das eigene Schaffen sowie über Kafka, Proust, Camus und Vertreter des »nouveau roman« nachzudenken. Engagiert verurteilt er die Repressalien gegen Leningrader Schriftstellerkollegen, spöttisch äußert er sich über Kritikaster und Literaturfunktionäre, die man erkennt, auch wenn er sie nur mit ihren Initialen nennt.

Erzählung und Tagebuch von 1963 verstand Bitow im Sinne Mandelstams als seine »zweite Prosa«. Sie ebnete den Weg zu seinen Beiträgen in dem systemkritischen Literaturalmanach »Metropol« von 1979, der nur im US-amerikanischen Verlag Ardis erscheinen konnte und dem Autor ein bis 1986 andauerndes Publikationsverbot einbrachte.

Andrej Bitow: Leben bei windigem Wetter. A. d. Russ. v. Rosemarie Tietze. Suhrkamp, 154 S., geb., 20 €.

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