Werbung

Zahlenspiele zur Beruhigung

Bundesregierung schönt Schneckentempo bei Evakuierung von Afghanen

  • Daniel Lücking
  • Lesedauer: 4 Min.

Es klingt erst einmal gut, wenn Steve Alter, Sprecher des Innenministeriums, in der Regierungspressekonferenz in Berlin sagt, dass seit dem 16. August 2021 bis zum Wochenbeginn 6689 afghanische Staatsangehörige eingereist seien. Christofer Burger, Sprecher des Auswärtigen Amtes, weist die Kritik von sich, es würden nur rund 200 Afghan*innen pro Woche einreisen. Das habe öffentlich so niemand geäußert, sei nicht das gewünschte Tempo, vermittelt er. Der Dreisatz gibt ihm zunächst recht, denn auf dem Papier wären in den vergangenen Wochen etwa 515 Afghan*innen pro Woche eingereist. Was beide Sprecher beim geschickten Jonglieren mit Zahlen verbergen: Rund 4100 Afghan*innen reisten im Zuge der von der Bundeswehr durchgeführten Evakuierung nach Deutschland ein, die im August endete. Um diesen Faktor bereinigt, kam es seit Ende der gefeierten Evakuierungsmission nur noch zu insgesamt 2559 Einreisen afghanischer Schutzbedürftiger und zu durchschnittlich 232 Einreisen pro Woche.

Andere Zahlen zeigen eine nur leicht bessere Bilanz. Botschaften in den Ländern um Afghanistan hätten seit Ende August »über 3000 Visa für Ortskräfte und besonders Gefährdete ausgestellt«, so Burger. »Davon rund 1500 alleine in den letzten drei Wochen.« Für Burger ein Indiz dafür, dass die Geschwindigkeit deutlich anziehe. »Darüber sind wir sehr froh.« Von 200 Ausreisen pro Woche habe die Regierung nie gesprochen, »davon ist nichts belastbar«, meint Burger und hofft darauf, man könne die Ausreisen künftig deutlich beschleunigen.

Eine schriftliche Frage von Gökay Akbulut, Migrationsexpertin der Linken im Bundestag, über die die »Neue Osnabrücker Zeitung« berichtete, bestätigte die zunächst kaum vorhandenen Ambitionen der Regierung Merkel, Einreisen zuzulassen. So wurden nach Angaben des Bundesinnenministeriums von den 18 619 Zusagen für Ortskräfte und Werkvertragsnehmer*innen sowie deren Familien, die die Bundesregierung von Mitte Mai bis Ende August erteilte, 11 866 erst während der militärischen Evakuierung ab Mitte August gegeben. Fast zwei Drittel (64 Prozent) aller Zusagen erfolgten innerhalb der elf Tage von Mitte bis Ende August, in denen die Evakuierungsmission unter extrem unsicheren und unklaren Bedingungen stand.

Akbulut kritisierte gegenüber »nd« die fehlenden Ambitionen: »Die Zahlen zeigen: Die Bundesregierung hat sich vor ihrer Verantwortung viel zu lange gedrückt. Die Sicherheit ihrer verbündeten afghanischen Ortskräfte hatte offenbar keine Priorität.« Weitere 4119 Aufnahmezusagen wurden erst nach Beendigung der Evakuierungsflüge ausgesprochen. »Die Bundesregierung muss deshalb alles tun, um diese Menschen zu retten. Das ist sie den Betroffenen auch schuldig«, so Akbulut weiter.

Nach Angaben des Sprechers Steve Alter sei das Innenministerium mit der Erstellung der Sicherheitsüberprüfungen kein Faktor, der zu Verzögerungen führe. »Das ist im Regelfall innerhalb weniger Minuten, teilweise in Sekundenschnelle erledigt«, schilderte Alter am Mittwoch. Es komme nur in wenigen Einzelfällen zu Ablehnungen oder Bedenken. Genaue Zahlen konnte Alter dazu nicht nennen. Problematisch sei weiterhin die Ausreise aus Afghanistan, da es aktuell keine Möglichkeiten gebe, ohne gültige Passpapiere aus Afghanistan auszureisen, so Außenministeriumssprecher Burger.

Die Versorgungsprobleme der Menschen in Afghanistan nehmen weiter zu. In einem offenen Brief forderte nun der afghanische Außenminister Amir Khan Muttaqi die US-Regierung dazu auf, die rund neun Milliarden US-Dollar an afghanischem Staatsvermögen freizugeben, die im August bei der Machtübernahme der Taliban eingefroren worden sind. Ein Großteil der Reserven der afghanischen Zentralbank sind in den USA geparkt. Laut einem Bericht der Kabuler Denkfabrik »Afghanistan Analysts Network« war das Land abhängig von ausländischen Devisen. Die jährlich 8,5 Milliarden US-Dollar an militärischer und ziviler Hilfe finanzierten zuletzt 75 Prozent der öffentlichen Ausgaben. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass in diesem Monat bereits mehr als die Hälfte der Bevölkerung nicht mehr über ausreichend Nahrungsmittel verfügen wird. Hilfsorganisationen prognostizieren eine schwere humanitäre Krise, die sich durch eine vorangegangene Dürre und den bevorstehenden Winter weiterhin verschärft.

Lesen Sie auch den Kommentar: »Geldhahn geschlossen halten«
von Daniel Lücking

Ein Grund für die prekäre Lage der ausreisewilligen Afghan*innen ist, dass das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit bis zu Beginn der Evakuierungsmission daran festhielten, dass lediglich Menschen aufgenommen werden sollten, deren Arbeitsverträge in den vergangenen zwei Jahren bestanden hatten.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.