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»Abstempeln muss aufhören«
Helena Kilian-Steinhaus erklärt, warum das Bürgergeld mehr als eine Umbenennung von Hartz IV sein muss
In ihrem Sondierungspapier haben SPD, Grüne und FDP sich darauf festgelegt, Hartz IV durch ein Bürgergeld zu ersetzen. Sie haben daraufhin eine Petition gestartet. Was sind Ihre Forderungen?
Wir fordern in der Petition zum einen die Sanktionsfreiheit, die Grundsicherung darf nicht gekürzt werden. Außerdem wollen wir einen deutlich höheren Regelsatz. Da ist es auch mit 50 Euro mehr nicht getan, was die Grünen als Kompromiss in ihrem Wahlkampf gefordert haben. Es müssen mindestens 600 Euro sein. Unsere dritte Forderung ist die komplette Übernahme der Heiz- und Wohnkosten. Das sind aber nur drei Punkte, natürlich braucht es noch mehr Änderungen.
Was wäre denn noch wichtig?
Die Bedarfsgemeinschaften müssen abgeschafft werden, der Zuverdienst für Jugendliche muss anrechnungsfrei bleiben, das Kindergeld darf nicht auf den Regelsatz angerechnet werden. Auch Familien in Hartz IV müssen das Kindergeld bedingungslos gezahlt bekommen, so wie alle anderen Menschen in Deutschland auch. Aber die große Krux liegt in den künstlich kleingerechneten Regelsätzen. Ich denke jedoch auch, dass es keine reelle Chance gibt, die anzupassen. Sie sollen jetzt ja Anfang 2022 um drei Euro im Monat erhöht werden, das sind 0,76 Prozent und anscheinend verfassungsgemäß. Und wenn das ohne viel Protest durchgegangen ist, sehe ich einfach schwarz.
Warum müssen denn die Bedarfsgemeinschaften abgeschafft werden?
Das Problem ist die Sippenhaft. Aktuell gilt: mitgehangen, mitgefangen. Wenn in einer Familie oder in einem Paarhaushalt einer Hartz IV bekommt, dann leiden momentan alle Menschen in der Bedarfsgemeinschaft darunter. So wird eine Abhängigkeit geschaffen. Unter 25-Jährige in Harz IV können die Wohnung ihrer Familie nicht verlassen, weil die Jobcenter neue Bedarfsgemeinschaften verhindern will. Allerdings ist es realistisch, dass junge Menschen mit eigenem Haushalt eher aus Hartz IV rauskommen.
Sie schreiben in ihrer Petition auch, Hartz IV werde als Drohkulisse eingesetzt. Wie meinen Sie das?
Zum einen ist da dieses Stigma, das auf Hartz IV lastet. Wenn Sie das Wort aussprechen haben Sie eine Assoziation, und die ist nicht positiv. Weder was das System betrifft, noch was die Menschen in diesem System betrifft. Man muss an dem Bild von Hartz-IV-Empfangenden arbeiten. Ich denke aber, das ist schon so verinnerlicht, dass tatsächlich ein neuer Name her muss. Ein weiterer Punkt ist die Kommunikation.
Was meinen Sie damit?
Alle Menschen, die Hartz IV bekommen, werden in den Briefen der Jobcenter als »Kunden« angesprochen. Ihnen wird vorgegaukelt, alles passiere freiwillig. Sie werden »eingeladen« zu einem Termin. Aber das ist keine »Einladung«, das ist Zwang. Der ergibt sich dadurch, dass jedes Schreiben von einer Sanktionsdrohung begleitet ist. Du hast keine Wahl. Wenn du den Aufforderungen nicht nachkommst, wird der Regelsatz, dein Existenzminimum gekürzt.
Die Ampel-Koalition will an den Mitwirkungspflichten festhalten. Bedeutet das auch ein Festhalten an den Sanktionen?
Die Mitwirkungspflichten und die Sanktionen beruhen auf unterschiedlichen Paragrafen im Sozialgesetzbuch. Deshalb weiß ich nicht, wie das gemeint ist. Ich habe aber die Befürchtung, dass die Sanktionen nur anders benannt werden und immer noch der gleiche Paragraf gemeint ist. Aber beide Paragrafen haben gemeinsam, dass wenn sie angewendet werden, der Regelsatz gekürzt wird. Es könnte also sein, dass selbst falls die Sanktionen abgeschafft werden, der Mitwirkungsparagraf vermehrt angewendet werden wird. Die Grundsicherung würde dann weiterhin bei kleinsten Vergehen gekürzt werden. Das Machtungleichgewicht zwischen Behörde und Mensch würde dann fortbestehen.
Die Ampel-Parteien wollen zudem die Zuverdienstmöglichkeiten verbessern, um Anreize zur Erwerbstätigkeit zu erhöhen. Fehlt es an diesen überhaupt oder wird damit die Schuld der Erwerbslosigkeit an die Betroffenen abgewälzt?
Es ist wichtig, dass der Zuverdienst erhöht wird. Natürlich ist es kein Anreiz, Geld dazuzuverdienen, wenn davon dann 80 Prozent wieder abgezogen und mit dem Regelsatz verrechnet werden. Die Zuverdienstgrenze muss erhöht werden. Andererseits kann das aber auch negative Auswirkungen haben. Damit kann einhergehen, dass schlechte Löhne durch die Hintertür subventioniert werden. Macht das dann Sinn?
Bei dem Bürgergeld ist immer die Rede von der »Achtung der Würde des Einzelnen«.
Was muss dafür noch passieren?
Es muss ein kompletter Paradigmenwechsel stattfinden. Es reicht nicht, Hartz IV in Bürgergeld umzubenennen. Und auch nicht die Punkte zu verbessern, die ich genannt habe. Den Menschen muss mit einem anderen Verständnis entgegen getreten werden. Statt sie als Bittsteller abzustempeln muss es in Ordnung sein, dass in unserer Gesellschaft Menschen zeitweise oder auch langfristig erwerblos sind. Das komplette Hartz-IV-System muss revolutioniert werden. Es kann beispielsweise nicht sein, dass es in den Jobcentern Kontingente von Maßnahmen gibt, in die dann die Leistungsempfangenden gepresst werden, obwohl sie die gar nicht brauchen. Es spielen so viele Dinge eine Rolle, die verändert werden müssen, damit man den Menschen mit Respekt entgegen tritt und sie nicht in ihrer Würde verletzt.
Ihre Petition wurde innerhalb von drei Wochen von über 60.000 Menschen unterzeichnet, letzten Donnerstag haben Sie diese übergeben. Wie war die Reaktion?
Ich hatte mehrere Politikerinnen und Politiker angefragt. Am Ende haben sich die Grünen offen verhalten und sind zur Übergabe gekommen. Hubertus Heil (SPD) wollte einen Vertreter schicken und Kevin Kühnert (SPD) hat nicht geantwortet.
Denken Sie, dass die Ampel-Parteien in ihrem Koalitionsvertrag für Hartz IV grundlegende Reformen vorsehen werden?
Das Bestreben ist teils da. Aber es ist fraglich, ob die sich auch gegen die FDP durchsetzen können. Ich glaube auch, es hängt stark von der SPD ab, ob die ihre Kräfte auch nutzt. Wie groß da der Wille ist, kann ich nicht sagen. Ich habe aber das Gefühl, sie haben da eine gewisse Gleichgültigkeit.
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