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Öffentlichkeit unerwünscht
Russlands bekannteste Menschenrechtsorganisation Memorial soll aufgelöst werden - Kritiker halten die Vorwürfe gegen die Organisation für vorgeschoben
Vor dem Eingang zum Obersten Gericht warten Hunderte auf Einlass. Nur Einzelne dürfen das im Moskauer Stadtzentrum gelegene Gebäude betreten: einige Vertreter der Organisation Memorial, ihre Anwälte, mehrere Zeugen, Diplomaten und die Presse. Richterin Alla Nasarowa verweist die anwesenden Journalisten allerdings kurz nach Prozessbeginn wieder aus dem Gerichtssaal: »Wenn sich so viele Menschen in einem Saal befinden lässt es sich nicht gut arbeiten.« Öffentlichkeit ist bei diesem Verfahren nicht erwünscht, dabei betrifft der laufende Vorgang und das daraus resultierende Urteil die gesamte russische Gesellschaft. Denn Gegenstand der Verhandlung am Donnerstag war die Auflösung der ältesten nichtstaatlichen Organisation Russlands, die einen zentralen Anteil an der Aufarbeitung der politischen Repressionen in der Sowjetunion hat.
Vor zwei Wochen erhielt der Dachverband von Memorial, mit Mitgliedern sowohl in Russland als auch im Ausland, die Mitteilung, dass die russische Generalstaatsanwaltschaft die Liquidierung der Internationalen Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge »Memorial« beantragt hat. Da es sich um einen internationalen Verein handelt, fällt diese Klage direkt in die Zuständigkeit des Obersten Gerichts. Generalstaatsanwalt Igor Krasnow warf Memorial in seiner Anklageschrift vor, systematisch ihre Funktion als »ausländischer Agent« zu verschleiern, da Twitterbeiträge oder Printmaterial nicht mit einer entsprechenden Markierung versehen wurden.
Memorial International wurde bereits 2016 ins Register sogenannter »ausländischer Agenten« eingetragen. Als Grundlage dienten dem Justizministerium damals Mitteilungen, in denen Memorial das »Agentengesetz« kritisierte, und ein Text mit dem Titel »Die Entsendung von Truppen in die Ukraine ist ein Verbrechen«. Streng genommen fallen internationale Zusammenhänge nicht unter das besagte Gesetz, das sich in seiner ursprünglichen Fassung gegen russische nichtstaatliche Organisationen richtet.
In den vergangenen zwei Jahren wurden gegen den Verein und seinen Vorsitzenden Jan Ratschinskij eine Reihe von Bußgeldern verhängt, was die Anklage als Beweis für die Vorsätzlichkeit der vorgeworfenen Gesetzesverstöße wertet. Anzeichen zu deren Abstellung seien nicht erkennbar. Memorial hingegen betonte, auf alle vorgebrachten Vorwürfe eingegangen zu sein. Dies lasse sich leicht durch Beweismittel belegen, die bei den damaligen Verfahren eingebracht wurden. Allerdings ist das Gesetz so unkonkret formuliert, dass seine Anwendung zur reinen Auslegungssache verkommt.
Aber die Staatsanwaltschaft geht noch weiter und wirft Memorial vor, einen schlechten Einfluss auf Minderjährige auszuüben. Verteidigerin Maria Eismont wollte wissen, vor welcher Art von Information die Anklage Kinder schützen wolle, sollte Memorial aufgelöst werden. Nach einer Pause antwortete einer der anwesenden Staatsanwälte, dass es um jene Informationen ginge, in denen Memorial nicht als »ausländischer Agent« markiert worden sei.
Gegenüber dem Gebäude kam es derweil zu ersten Festnahmen von Protestierenden, die mit Plakaten ihre Solidarität mit Memorial zum Ausdruck brachten. Es sind viele ältere Angehörige von Leuten, die unter Repressionen gelitten haben, erschienen, aber auch viele junge Menschen. »Wir dürfen nicht zulassen, dass der Staat das Andenken an die politischen Repressionen auslöscht«, sagt Arina. Sie ist Anfang zwanzig und hat selbst keinen direkten Bezug zu Memorial, aber sie schätzt die Arbeit der Organisation. »Sie stellt ja auch ein großes Netzwerk an Menschenrechtsorganisationen dar, die sich mit den Repressionen heute beschäftigt.«
Tatsächlich steht hinter Memorial ein verzweigtes Konglomerat an Strukturen. Memorial hat sich Ende der 1980er Jahre als Basisbewegung formiert, was der Organisation Nahestehenden auch heute noch wichtig ist zu betonen. Erster Vorsitzende war der Nobelpreisträger Andrej Sacharow. Auch wenn viele im Memorial-Umfeld der Sowjetunion gegenüber negativ eingestellt sind und aufgrund ihrer oft tragischen Familiengeschichten und ermordeten Väter oder Großväter den Kommunismus verdammen, spiegelt sich dort die gesamte politische Bandbreite wider. Ratschinskijs Großmutter gehörte einst der Partei der Sozialrevolutionäre an, der vor vier Jahren verstorbene ehemalige Memorial-Vorsitzende Arsenij Roginskij sympathisierte mit den Sozialisten. Im Glauben an die Notwendigkeit historischer Aufarbeitung, Aufklärung und die Einhaltung der Menschenrechte fand sich ein gemeinsamer Nenner.
Schon einmal, 2014, reichte das Justizministerium eine Klage beim Obersten Gericht ein mit der Forderung, die russische Memorial-Dachorganisation mit ihren landesweiten Vertretungen aufzulösen. Eine Prüfung habe Verstöße der Satzung gegen die geltende Gesetzgebung ergeben. Da die Organisation allen Forderungen des Klägers nachgekommen war, wies das Gericht die Klage zurück. Damals herrschte in Russland ein liberaleres politisches Klima. Inzwischen durchdringt der Staat immer mehr gesellschaftliche Sphären und setzt mit Nachdruck sein Monopol selbst bei der Interpretation der gewaltvollen russischen Geschichte durch.
Zeitgleich mit dem Internationalen Dachverband begann am vergangenen Dienstag im Moskauer Stadtgericht das Auflösungsverfahren gegen das Menschenrechtszentrum von Memorial. Das Zentrum leistet Rechtsbeistand für Opfer von Menschenrechtsverletzungen und setzt sich für faire Verfahren ein, wie beispielsweise im Verfahren gegen Oppositionelle, die derzeit in Inguschetien auf der Anklagebank sitzen.
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Menschenrechtszentrum nicht nur Verstöße gegen das »Agentengesetz« vor, sondern auch Extremismus und Terrorismus zu unterstützen. Konkret geht es um eine auf der Webseite zugängliche und hunderte Namen umfassende Liste von politischen Gefangenen, die in russischen Gefängnissen teilweise hohe Haftstrafen verbüßen. Memorial hält die Vorwürfe oder die Beweisführung bei diesen Verfahren für unrechtmäßig und unhaltbar. Die Anklage hingegen behauptet, allein die öffentliche Einstufung als politischer Gefangener, beispielsweise eines wegen Extremismus verurteilten Zeugen Jehovas, könnte einen unbestimmten Personenkreis zu ähnlichen Straftaten anhalten. Verteidiger Ilja Nowikow, der auch den Prozess gegen den mittlerweile verbotenen Antikorruptionsfonds des in Haft sitzenden Oppositionellen Aleksej Nawalnyj begleitete, wertet es als schlechtes Zeichen, dass gleich gegen zwei Memorial-Strukturen Verfahren angelaufen sind.
Trotzdem herrscht auf der Straße vor dem Obersten Gericht verhaltener Optimismus. Aufgeben will hier niemand. »Man kann eine Organisation verbieten, aber man kann niemandem verbieten, die Geschichte aufzuarbeiten«, sagt Alexander Werchowskij, Chef des Zentrums SOVA, das selbst als »ausländischer Agent« gilt. Die Verhandlung soll am 14. Dezember fortgesetzt werden.
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