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Autonom am Großen Stern
Eine Linie mit selbstfahrenden Bussen soll ab April in Berlin den Stand der Technik für jedermann erfahrbar machen
Aus der Vogelperspektive erinnert die Niederbarnimstraße in Berlin-Friedrichshain an einen großen Parkplatz. 23 Autos stehen auf dem rund 75 Meter langen Abschnitt, nur eines fährt. Zu sehen ist die ungewöhnliche Perspektive auf einem Monitor, der auf einem Stehtisch platziert ist. Sie visualisiert, wie der am Straßenrand geparkte, für das autonome Fahren aufgerüstete SUV mittels einer Heerschar von Sensoren seine Umgebung wahrnimmt. Sieben Kameras, fünf 2D- und zwei 3D-Laserscanner sowie ein Sensor für das auf Satellitenortung basierende Echtzeitkinematiksystem sind dort verbaut, außerdem noch Ultraschallsensoren. Trotz der technischen Materialschlacht lässt die Visualisierung Schwächen in der Wahrnehmung erkennen: Der Bierbankstapel vor der Kneipe auf dem Bürgersteig wird wegen der Abmessungen als Auto interpretiert, außerdem tänzeln die abgestellten Fahrzeuge auf dem Bildschirm immer hin und her.
»Was wir als Mensch sehen, soll das Fahrzeug in der Zukunft auch sehen können«, sagt Professor Şahin Albayrak bei dem Pressetermin am vergangenen Montag. Der Informatiker ist Leiter des Projekts BeIntelli, das vom DAI-Labor der Technischen Universität Berlin verantwortet wird. Die drei Buchstaben stehen für Distributed Artificial Intelligence, was zu Deutsch verteilte künstliche Intelligenz bedeutet. Kurz gesagt sollen dabei verschiedene Objekte miteinander interagieren, um autonomes Fahren zu ermöglichen.
Bei BeIntelli sind das neben der Technik in den Fahrzeugen auch rund 250 Erfassungsgeräte, die entlang der Berliner Teststrecke verbaut sind. Kameras, Parkplatz-, Schadstoff-, Wetter-, Straßen- und Ampelsensoren. Die rund zehn Kilometer der aufgerüstetenRoute, laut Albayrak »das längste Reallabor weltweit«, führt vom Adenauerplatz entlang des Kurfürstendamms, am Bahnhof Zoo vorbei zum Ernst-Reuter-Platz und weiter entlang der Straße des 17. Juni zum Brandenburger Tor und schließlich am Nordrand des Tiergartens, vorbei am Regierungsviertel, bis zum Großen Stern.
Ab kommendem April soll ein autonomer Stadtbus den Parcours befahren, jedermann soll ohne Anmeldung kostenlos einsteigen können. »Damit wollen wir Berlinerinnen und Berliner, eigentlich alle Bürgerinnen und Bürger und auch die Politik mitnehmen«, sagt Albayrak. Nicht nur konkret, sondern auch im übertragenen Sinne. »Wir wollen das Ganze erlebbar machen, sehen, wo es drückt, auf der anderen Seite den Menschen auch die Angst nehmen«, so der Informatikprofessor.
Vier Monitore im Inneren werden zeigen, wie die Sensoren und Rechner des Busses die Umgebung wahrnehmen, welche Manöver das Fahrzeug plant. »Es werden keine Spielzeugbusse sein, die nur 10 oder 15 Kilometer pro Stunde fahren«, verspricht er. Für eine Übergangszeit würden noch Fahrer im Bus kontrollieren, was das Fahrzeug macht, kündigt er an. Der Testlauf entspricht Level 4 der Automatisierungsskala, Fahrer können sich vorübergehend auf die Technik verlassen.
In drei bis vier Jahren soll das in Serienfahrzeugen möglich sein, erwartet Albayrak. In zehn Jahren könnte Level 5 erreicht sein, glaubt der Forscher. Dann gibt es kein Lenkrad mehr. »Es geht nicht darum, Level 5 schnell zu erreichen, sondern die Gesellschaft darauf vorzubereiten«, sagt der Informatiker auch. »Niemand wird diese Entwicklung stoppen können.«
»Die auf Künstliche Intelligenz gestützte Technologie hat hier großes Potenzial, die Zahl der Verkehrsunfälle zu reduzieren, da 88 Prozent aller Unfälle letztlich auf menschliches Versagen zurückzuführen sind«, sagt Karsten Schulze, Vorstand für Technik im ADAC Berlin-Brandenburg als Mitausrichter des Pressetermins.
Unfälle wie 2018 in den USA, als ein autonomes Testauto des Fahrdienstleiters Uber eine die Straße querende Fahrradfahrerin tötete, »können mit unserem System nicht passieren«, verspricht Şahin Albayrak. Das liege an der zusätzlichen Sensortechnik an der Straße. »Das Fahrzeug muss aus der Umgebung unterstützt werden. Dadurch kann es auch sehen, was bis zu 800 Meter weiter passiert«, erläutert er. In den großen Städten sei die Lage auf den Straßen »so komplex, dass es das Fahrzeug alleine nicht beherrschen würde«, so Albayrak. Im ländlichen Raum sei das aber nicht unbedingt nötig.
Den Sicherheitsaspekt beim autonomen Fahren sieht Martina Hertel auf der Habenseite der Technologie. »Bisher sind die Ergebnisse mit autonomen Fahrzeugen allerdings eher ernüchternd«, sagt die Projektleiterin am Deutschen Institut für Urbanistik, einem Thinktank der Kommunen, zu »nd«. Bisher verkehren die Kleinbusse auf einer Art digitaler Schiene, einem vorher exakt programmierten Kurs. Sie sei in Tegel mitgefahren. »Es kam, wie es kommen musste, weil die Berliner sich an keine Parkregeln halten. Manuell gesteuert, musste das geparkte Fahrzeug umfahren werden«, schildert sie. Auch die Wendestellen seien regelmäßig zugeparkt. Selbst in weniger chaotischen Bereichen wie dem Campus der Universitätsmedizin Mainz treten solche Probleme auf.
»Man könnte sagen, dass man dieses Problem digital löst, entweder aus einer Betriebszentrale per Fernsteuerung, oder das System wird so lernfähig, dass das Fahrzeug selbstständig ein Hindernis umfahren kann«, so Hertel weiter. Eine derartige technische Aufrüstung hält sie jedoch für nicht sehr realistisch. »Es bräuchte für Letzteres eine unglaublich immense Rechnerkapazität, die das Ganze mit enormen Fragezeichen versieht«, sagt die Mobilitätsexpertin. Die andere Lösung wäre »eine Abpollerung der Straßen, entweder physisch oder virtuell«, um Störeinflüsse zu reduzieren. »Das wirft städtebauliche Fragen auf, auch jene, wie viel Technik wir im öffentlichen Raum haben wollen«, sagt Hertel.
Die Expertin nennt weitere Probleme. Die im Straßenverkehr übliche Kommunikation per Handzeichen verstünde die Technik nicht, genauso wenig die Signale per Fahne wie an baustellenbedingten Engstellen. Sie verweist auch auf »schwer zu lösende rechtliche und moralische Fragen«. Zum Beispiel bei absehbaren Unfällen, bei denen nur die Wahl bleibt, wer das Opfer wird. »Zugespitzt lautet die Frage: Welche vulnerable Gruppe wird im Zweifelsfall totgefahren?«, sagt Hertel.
Autobahnen scheinen der Mobilitätsforscherin noch »als der wahrscheinlichste Anwendungsfall, denn dort gibt es in der Regel keine Fußgänger oder Fahrradfahrer«. Es habe große Erwartungen gegeben, dass bei virtuell gekuppelten Konvoifahrten von Lkw auf Autobahnen eine Treibstoffersparnis von 20 Prozent hätte erreicht werden können, berichtet sie. »Tatsächlich erreichte man in Feldversuchen nur etwa die Hälfte.«
Derzeit ist autonomes Fahren im öffentlichen Raum vor allem über Shuttledienste mit meist an überdimensionierte Brotkästen erinnernden, langsam fahrenden Shuttlebussen präsent. Es gebe »ein paar euphorische Menschen«, die glaubten, dass man mit gut funktionierenden Diensten dieser Art den motorisierten Individualverkehr (MIV) zurückdrängen könne, sagt Martina Hertel. Sie glaube »ehrlicherweise nicht daran«, solange es keine stärkeren Einschränkungen für den privaten Autoverkehr gebe. »Der Wunsch nach Individualität, sich ins eigene Gehäuse zu setzen, zu bestimmen, wie es ausgestattet ist, wie es da riecht, ist so omnipräsent, dass sich die Leute auf ihrem Weg auch zwei-, dreimal in den Stau stellen«, so die bisherige Erfahrung.
Zumindest im hochverdichteten urbanen Bereich sieht auch Katja Diehl wenig Einsatzbereiche. »Ich kann mir keine Stadt vorstellen, in der Shuttle- oder Sammeltaxidienste auf langen Distanzen nötig sind«, sagt die engagierte Kämpferin für die Verkehrswende zu »nd«. Sie produziert zu diesem Thema unter anderem den Podcast »She Drives Mobility«. Im Februar soll auch ihr Buch »Autokorrektur« erscheinen. »Im ländlichen Raum brauchen wir diese Mobilität jetzt, wenn wir den MIV zurückdrängen wollen. Wir dürfen also nicht warten, bis vollautonome Fahrzeuge funktionieren, sondern müssen diese Dienste jetzt mit Personal erbringen«, erklärt sie. Und zwar in der Form, dass sie eine Anbindung an starke Achsen wie eine Bahnstrecke gewährleisten. »Wenn das dann irgendwann autonom gut funktioniert, umso besser«, so Diehl.
Da kann Martina Hertel vom Deutschen Institut für Urbanistik durchaus mitgehen. »Kleine Shuttlebusse, gerade auf dem Land oder in gewissen Stadtrandbereichen, haben meist den Vorteil der sozialen Kontrolle, weil sich die Leute kennen; viele ältere Menschen fahren gerne mit dem Bus, weil sie da auch mit anderen quatschen können«, sagt sie. Doch jenseits von Shuttlediensten zwischen Großparkplätzen und Attraktionen wie dem Hambacher Schloss, die den Ort vom Durchgangsverkehr entlasten sollen, hält sie es für fraglich, ob die Systeme das Potenzial haben, reine Autofahrende zum Umstieg zu bewegen.
»Die Gefahr von derart technisch orientierten Projekten ist, dass wir die Einführung von diesen Angeboten zu sehr in die Zukunft verschieben«, sagt Katja Diehl. Sie erinnert: »Es wurde uns schon vor zehn Jahren angekündigt, dass vollautonome Fahrzeuge jetzt zur Verfügung stehen werden.« Zumal auch auf dem Land E-Scooter- und Fahrrad-Leihsysteme zumindest auf kürzeren Distanzen zur Verkehrswende beitragen könnten. Das Kostenargument gegen die Einführung solcher Angebote hält sie für eher relativ. Denn laut einer 2019 veröffentlichten Studie des Zürcher Infras-Instituts im Auftrag der Allianz pro Schiene verursachte der Straßenverkehr in Deutschland im Jahr 2017 durch Lärm, Versiegelung und Umweltschäden über 140 Milliarden Euro an externen Kosten.
Professor Şahin Albayrak wird weiterforschen. »Als Autoindustrieland müssen wir das autonome Fahren aufgreifen«, sagt er. »Wenn wir am Standort Deutschland wettbewerbsfähig bleiben wollen, müssen unsere Fahrzeuge auch aus digitalen Komponenten und Software bestehen. Wir müssen dafür sorgen, dass hier Unternehmen entstehen, die diese Software entwickeln.« Rund 17 Millionen Euro sollen in das Projekt BeIntelli in der Laufzeit bis Mitte 2023 fließen, rund 14 Millionen davon aus Bundesförderung. Die Ampel-Koalition im Bund will laut Koalitionsvertrag Deutschland »zum Innovationsstandort für autonomes Fahren« machen. Auch Martina Hertel will, dass trotz aller aktueller Bedenken weiter geforscht wird, »um den technischen, städtebaulichen, verkehrlichen und rechtlichen Fragestellungen auf den Grund zu gehen«. Ein mögliches Potenzial sieht auch sie.
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